Logo ITI Germany
20 Min

17.02.2023

Foto

Monika Huber

Wir wollen als Künstler:innen ernst genommen werden!

Sophie Diesselhorst im Gespräch mit Anastasiia Kosodii, Maja Zade und Nina de la Chevallerie.

Anastasiia Kosodii, Sie sind in dieser Saison Hausautorin am Nationaltheater (NT) Mannheim. Wie kam es dazu?

Anastasiia Kosodii
Anfang dieses Jahres, als der russische Krieg gegen die Ukraine begann, kam ich nach Berlin. Ich suchte nach längerfristigen Arbeitsmöglichkeiten, aber meist wurden mir nur einmalige Gelegenheiten wie Lesungen oder Diskussionen angeboten. Eine befreundete Autorin (Sivan Ben Yishai) machte mich mit dem Intendanten des NT Mannheim bekannt, und ich schickte ihm einige meiner Stücke. Er las sie und war interessiert. Er war überrascht, dass so viele meiner Texte ins Deutsche übersetzt worden waren. Das liegt daran, dass es in den letzten acht Jahren etliche deutsch-ukrainische Austauschveranstaltungen gab, für die einige meiner Texte übersetzt wurden. Aber danach waren die deutschen Theater nicht mehr an ihnen interessiert. 

Wie arbeiten Sie? Wie viel Kontakt haben Sie als Hausautorin mit dem Theater?

Anastasiia Kosodii
Das Theater hat mir eine Wohnung in Mannheim angeboten. Ich habe mich entschieden, in Berlin zu bleiben, weil die meisten meiner Freund:innen hier sind. Ich werde bei meinem Stück auch Regie führen, also fange ich gerade so langsam an, Schauspieler:innen zu casten und ein Bühnenbild zu entwickeln. Im Februar beginnen die Proben, die Premiere wird im April sein. In dieser Zeit werde ich natürlich in Mannheim im Theater sein. Aber im Moment bin ich hauptsächlich noch am Schreiben.

Es ist für mich unmöglich, ein ‚klassisches‘ Well-made-play zu schreiben, weil ich mir zum Beispiel keinen Dialog zwischen russischen Soldaten und den ukrainischen Menschen, die in den besetzten Gebieten leben, vorstellen kann oder auch will.

Auf der Website des Theaters reflektieren Sie Ihre künstlerische Position. Sie fragen sich selbst, wie man über den Krieg schreibt, und schreiben: Es gibt eine neue Realität und vielleicht müssen wir eine neue Sprache finden. Wie geht das?

Anastasiia Kosodii
Als der Krieg im Osten der Ukraine begann, habe ich viel darüber geschrieben. Damals war es als in der Ukraine lebende Person noch möglich, eine Distanz zu den Ereignissen zu haben. Dieses Jahr ist das unmöglich geworden. Ich frage mich immer wieder, wie ich über die aktuellen Ereignisse schreiben soll. Denn ich will sie thematisieren. Aber wie kann ich das tun, auf ethische Weise gegenüber den betroffenen Menschen, aber auch auf ästhetische Weise. Denn ich möchte nicht nur einen Facebook-Post oder einen journalistischen Text schreiben, sondern einen theatralischen Text, der wirklich widerspiegelt, was vor sich geht. Es ist für mich unmöglich, ein ‚klassisches‘ Well-made-play zu schreiben, weil ich mir zum Beispiel keinen Dialog zwischen russischen Soldaten und den ukrainischen Menschen, die in den besetzten Gebieten leben, vorstellen kann oder auch will. Das ergibt für mich keinen Sinn.

Was mir jetzt beim Schreiben hilft, ist, mich zuerst auf die Details zu konzentrieren. In einem meiner letzten Texte schreibe ich darüber, dass die Russen meine Heimatstadt Saporischschja mit S-300-Raketen (die NATO verwendet die Bezeichnung SA-10 Grumble) bombardiert haben. Am Morgen des 25. Mai wurde eine dieser Raketen von den Verteidigungskräften abgeschossen und fiel durch das Dach des Einkaufszentrums Aurora im Zentrum der Stadt; eine Frau wurde getötet. Ich sah mir alle vorhandenen Videos des Einkaufszentrums und der angrenzenden Straßen nach dem Einschlag der Rakete an. Es sah sehr seltsam und auch vertraut aus – die helle, warme Sonne des Beinahe-Sommers, zerbrochenes Glas und Metallstücke auf der Straße, Vogelgezwitscher, Fenster ohne Glas in dem Gebäude auf der anderen Straßenseite, das Gefühl des Ferienbeginns, die Polizei, die die Autofahrer auffordert, eine Parallelstraße zu nehmen ... das alles habe ich also beschrieben. Und dann fragte ich mich – was denkt der russische Soldat, der das S-300-Raketensystem bedient, an solchen Morgenden? Putzt er sich die Zähne, ist ihm kalt, was für einen Tee trinkt er, was macht er nach dem Abschuss der C-300-Raketen, vielleicht will er ein paar Geschenke für seine Kinder kaufen ... also habe ich auch all diese Vermutungen beschrieben. So arbeite ich jetzt – ich gehe von den Details aus, zoome in sie hinein und hoffe, dass sie mir helfen, die Geschichte des größeren Ganzen zu erzählen.

Maja Zade, Sie waren Dramaturgin für ein Stück von Stas Zhyrkov und Pavlo Arie an der Schaubühne Berlin, „Sich waffnend gegen eine See von Plagen“. Die ukrainisch-deutsche Produktion, die im September Premiere hatte, erzählt die Geschichten von Künstler:innen, Theaterregisseur:innen und Schauspieler:innen, die im Krieg gegen die Ukraine zu Soldat:innen geworden sind, um ihr Heimatland zu verteidigen. Wie kam es zu diesem halbdokumentarischen Stück?

Maja Zade
Sehr spontan. Ein Journalist stellte uns Stas und Pavlo vor, wir gingen einen Kaffee trinken und sie erzählten uns von Leuten aus ihrem Left Bank Theatre in Kiew, die jetzt im Krieg kämpfen. Und wie ihre eigene Entscheidung, nicht zu den Waffen zu greifen, für sie ein großes Dilemma war. Wir dachten sofort: Das ist ein Stück! Drei Wochen später begannen wir mit einem unserer Schauspieler und zwei Schauspielern des Left Bank Theatre zu proben. Sie interviewten ihre Kolleg:innen über ihre Entscheidung, in den Krieg zu ziehen, und darüber, wie es war. Es war ziemlich surreal, weil wir sie per FaceTiming kontaktierten, während sie sich im Kriegsgebiet befanden. Für uns Deutsche war es in gewisser Weise seltsam, denn als Deutscher fühlt man sich dann schon für unsere Geschichte mit Putin verantwortlich. Wir waren auch besorgt, weil es offensichtlich so emotional für sie war und sie ziemlich traumatisiert waren, und wir saßen da und dachten: Wird das funktionieren? Aber die Zusammenarbeit hat wirklich bestens geklappt. Sie hat sich als so besonders erwiesen, dass wir sie in der nächsten Saison fortsetzen werden.

Nina de la Chevallerie, Sie arbeiten seit 2009 im Rahmen des Boat People Projekts transkulturell, haben sich aber auch nach 2015 aktiv mit der Situation von Exil- und Flüchtlingskünstler:innen in Deutschland auseinandergesetzt. Wie würden Sie sagen, steht die deutsche Theaterlandschaft aktuell da, was die Integration von Künstler:innen angeht, die aus anderen Theaterszenen und Ländern kommen?

Nina de la Chevallerie 
Nun, die Theaterlandschaft ist natürlich sehr vielfältig. Ich gehöre zur freien Szene. Für uns ist die Finanzierungssituation immer sehr wichtig, und die hat sich in letzter Zeit ziemlich verändert. Während der Pandemie gab es viel mehr Geld, was neue Möglichkeiten für neue Künstler:innen schuf, auch für Künstler:innen im Exil. Das hat den Weg für neue Ästhetiken, neue Themen, neue Perspektiven geebnet. Auch für mehr transkulturelle Experimente. Ab nächstem Jahr werden die Mittel drastisch gekürzt, was viele Künstler:innen, die in der freien Szene arbeiten, beunruhigt. Aber natürlich ist das gemeinsame Arbeiten in transkulturellen Konstellationen nicht nur eine Frage der Finanzierung. Es geht auch darum, wie sehr wir uns bemühen, neugierig auf unterschiedliche Ästhetiken und Formen der Zusammenarbeit zu bleiben. Es ist immer viel einfacher, mit Leuten zu arbeiten, die man schon lange kennt und die auch die gleiche Sprache sprechen.

Anastasiia Kosodii, gibt es diese Trennung zwischen staatlichen Theatern und einer freien Szene auch in der Ukraine?

Anastasiia Kosodii 
Ja, sehr stark sogar. Ich war immer Teil der freien Szene, und meiner Meinung nach sind die meisten ukrainischen Staatstheater stagnierende Institutionen, die seit 20-30 Jahren von ein und derselben Person oder der Familie dieser Person geleitet werden. Sie wollen sich nicht weiterentwickeln, sie sind nicht an neuen Stimmen, neuen Texten interessiert. Wer also Theater machen will, ohne sich diesen korrupten Clans anzuschließen, ist auf Fördermittel angewiesen, genau wie die freie Szene hier in Deutschland. Aber die meisten Förderungen sind an soziokulturelle Politik gebunden. Wenn man einen Förderantrag für ein Stück schreibt, muss man oft auch versprechen, dass dieses Stück die ‚Gesellschaft heilen‘ wird. Förderung heißt außerdem auch, viel Bürokratie zu durchlaufen. Nichtsdestotrotz gibt es (für meinen Geschmack) zwei gute staatlich finanzierte Theater in der Ukraine – das Theater Lesia Ukrainka in Lemberg und das Theater Vie in Saporischschja. Und es gibt eine Menge guter unabhängiger Theater – Theater Neft (Charkiw), Postplaylab (Kiew), Theatre of Playwrights [z. Dt.: Autor:innentheater] (Kiew), Jam Factory Art Center (Lemberg; sie sind in vielen Bereichen aktiv, Theater ist nur einer davon).

Maja Zade, ich möchte noch einmal auf die Herausforderungen der Zusammenarbeit über die Grenzen der verschiedenen Theaterkulturen hinweg zurückkommen. Die Schaubühne hat traditionell viele internationale Produktionen. Wie gehen Sie mit den Unterschieden um?

Maja Zade
Im speziellen Fall von „Sich waffnend gegen eine See von Plagen“ war die Herausforderung natürlich das Thema, weil es für die beteiligten Personen so persönlich war, dass es in gewisser Weise mehr als nur Theater war. Ansonsten würde ich sagen, dass die Arbeitsstile in diesem Fall bemerkenswert ähnlich waren. Der größte Unterschied war der Schauspielstil. Diese Art von emotionalem, bildhaftem Schauspiel würde man in einem rein deutschen Dokumentartheaterstück nicht sehen. Aber gerade dieser Unterschied hat einen tollen Austausch ermöglicht: Die Ukrainer haben sich buchstäblich jede einzelne Aufführung während ihrer Probenzeit angeschaut und danach immer mit den Schauspieler:innen unseres Ensembles gesprochen. Das hatte den Effekt, dass fast unser gesamtes Ensemble zu unserer Vorstellung kam. Das passiert nicht immer, dass es eine solche Überschneidung und eine solche Neugier unter den Schauspieler:innen gibt, dass sie wirklich über verschiedene Schauspielstile und Ästhetiken ins Gespräch kommen.

Wir führen bei allen internationalen Produktionen lange Gespräche, bevor wir mit den Proben beginnen, um die Unterschiede zu überbrücken. Viele Regisseur:innen aus dem Ausland sind es zum Beispiel nicht gewohnt, in ein starkes Ensemble von Schauspieler:innen zu kommen, wie wir es hier haben. Schauspieler:innen, die immer mit verschiedenen Regisseur:innen zusammenarbeiten und die ziemlich herausfordernd sein können, weil sie Diskussionen darüber führen wollen, warum sie machen sollen, was die regieführende Person will. Die Rolle der Dramaturg:innen ist bei diesen Produktionen sehr wichtig, um zwischen den Schauspieler:innen und den Regisseur:innen zu vermitteln. Ständige Kommunikation ist der Schlüssel zum Erfolg.

Nina de la Chevallerie, wie gestaltet sich in Ihrer Gruppe, die von deutschen weißen Theatermacher:innen gegründet wurde, die transkulturelle Arbeit? Wie schaffen Sie Raum für andere Perspektiven?

Nina de la Chevallerie
Als wir anfingen, war ich sehr ehrgeizig. Ich wollte Regisseurin werden. Und dann haben wir 2012 eine Produktion mit zwei Zulu-Männern aus Südafrika gemacht, und ich habe gemerkt, dass es für mich als weiße deutsche Frau nicht möglich ist, zwei Schwarze Männer aus Südafrika in einem Stück über die Post-Apartheid zu inszenieren. Danach habe ich angefangen, mich zurückzuziehen. Ich bin im Laufe der Jahre eher eine Dramaturgin oder Produzentin geworden, die versucht, Geld für Leute zu organisieren, die wir einladen oder die zu uns kommen, und die auch Leute zusammenbringt. Ich stimme Maja Zade zu, Kommunikation ist der Schlüssel zum Erfolg. Viel reden und viel zuhören. Das zeigt mir immer wieder, welche Privilegien ich habe. Wir haben gerade ein Stück über Damaskus produziert, und mir ist klar geworden: Ich kann mir aussuchen, ob ich mich für Themen wie Krieg und Rassismus interessiere, aber für die beiden syrischen Künstler:innen, die dieses Stück gemacht haben, sind diese Themen einfach immer da.

Ich habe regelmäßig den Eindruck, dass die Leute hier nicht genug differenzieren. Sie schauen zum Beispiel nicht wirklich auf die Qualität der Texte. Sie sehen, dass das Stück ukrainisch ist, und das heißt im Moment, dass es gut ist. Aber wir wollen als Künstler:innen ernst genommen werden!

Anastasiia Kosodii, haben Sie Kontakt zu anderen Künstler:innen, die aus der Ukraine hierher gekommen sind? Wie geht es ihnen im deutschen Theatersystem, fühlen sie sich einbezogen?

Anastasiia Kosodii
Ja, ich kenne viele ukrainische Künstler:innen, die jetzt hier in Deutschland leben und arbeiten wollen. Die Ironie der Geschichte ist, dass in der Ukraine Dramatiker:innen die am wenigsten privilegierte Position im Theater innehaben. Jetzt, im Exil, sind es auf magische Weise die Dramatiker:innen, die die meisten Angebote bekommen. Und natürlich macht das auf praktischer Ebene Sinn, weil es – vor allem aus sprachlichen Gründen – schwieriger ist, Regisseur:innen und vor allem Schauspieler:innen zu integrieren. Dramatiker:innen hingegen können ein Stück schreiben und das wird einfach übersetzt.

Alles in allem haben uns die deutschen Theater viel Solidarität entgegengebracht, und dafür sind wir dankbar. Das Einzige, was mich manchmal stört, ist der allgemeine Umgang mit den ukrainischen Theatermacher:innen, die jetzt im Ausland leben und arbeiten. Die Leute hier scheinen zu denken, dass wir alle miteinander befreundet sind und uns auch ästhetisch schätzen. Das ist natürlich überhaupt nicht der Fall. Ich habe regelmäßig den Eindruck, dass die Leute hier nicht genug differenzieren. Sie schauen zum Beispiel nicht wirklich auf die Qualität der Texte. Sie sehen, dass das Stück ukrainisch ist, und das heißt im Moment, dass es gut ist. Aber wir wollen als Künstler:innen ernst genommen werden!

Es ist schon seltsam genug, sein Land ständig zu ‚repräsentieren‘. Aber ich denke, dass alle ukrainischen Künstler:innen, die momentan nicht dort leben, es als ihre grundlegendste Verantwortung sehen – wenn wir schon die Bequemlichkeit unserer europäischen Häuser genießen statt in Städten mit Stromausfall oder an der Front zu sein – unsere Geschichten über diesen Krieg und über die Ukraine einem größeren Publikum zu erzählen.

Letzte Woche wurde in Hamburg ein Theaterstück über den Krieg in der Ukraine von dem russischen Regisseur Kirill Serebrennikov uraufgeführt („Der Wij” nach Nikolaj Gogol am Thalia Theater Hamburg). Es gab Proteste von Ukrainer:innen dagegen, dass ein russischer Künstler dort über diesen Krieg sprechen darf. Wie denken Sie darüber?

Anastasiia Kosodii
Ich teile die Wut der Menschen, die gegen dieses Stück protestiert haben. Soweit ich weiß, wird darin ein russischer Soldat dargestellt, der von Ukrainer:innen gefoltert wird. Ich werde es mir auf keinen Fall ansehen, weil es mich im Moment viel zu sehr aufregt. Aber natürlich habe ich darüber gelesen. Ich finde es höchst beleidigend, dass ein deutsches Theater meint, es könne eine Art Dialog zwischen Ukrainer:innen und Russ:innen aufbauen. Serebrennikov als Initiator dieses Dialogs - pure Heuchelei.

Maja Zade – Kirill Serbrennikov ist ein regelmäßiger Gastregisseur an der Schaubühne. Wie sehen Sie das?

Maja Zade
Wir haben vor dem Krieg mehrere seiner Produktionen zu unserem FIND-Festival eingeladen. Für mich ist das eine schwierige Frage, weil es natürlich auch viele russische Künstler:innen im Exil gibt. Und denen will man ja auch helfen. Aber ich verstehe, dass die Ukrainer:innen im Moment nicht mit den Russen einen Raum teilen wollen.

Zum Schluss ein Blick in die Zukunft: Maja Zade, Sie haben gesagt, dass Sie ein nächstes Projekt mit Stas Zhyrkov planen – werden die anderen drei, Pavlo Arie und die beiden Schauspieler Dmytro Oliinyk und Oleh Stefan auch dabei sein, oder wird dieses nächste Projekt in einer neuen ukrainisch-deutschen Konstellation stattfinden?

Maja Zade
Das ist noch in einem frühen Stadium der Planung. Aber ich denke, es werden einige neue Leute dabei sein. Mehr Ukrainer:innen und Deutsche zusammen auf die Bühne zu bringen, ist künstlerisch wünschenswert, aus den Gründen, die ich schon beschrieben habe. Aber auch auf einer ganz einfachen Ebene: ukrainischen Künstler:innen zu helfen, indem wir ihnen Jobs und damit Geld geben.

Nina de la Chevallerie, wie sehen Sie die Zukunft der transkulturellen Zusammenarbeit in der freien Szene?

Nina de la Chevallerie
Ich muss zugeben, dass ich mich noch nie so sehr vor der Zukunft gefürchtet habe wie momentan. Die höhere Förderung während der Pandemie hat eine sehr vielfältige künstlerische Landschaft hervorgebracht, aber jetzt mit den Kürzungen fangen die Leute an, die Ellenbogen auszufahren, anstatt einander Solidarität zu zeigen. Ich hoffe wirklich, dass wir dagegen steuern können. Vielleicht sollten wir auch mehr Koproduktionen zwischen staatlichen Theatern und der freien Szene machen. Wir müssen zusammenhalten.

Was wirklich wichtig ist als stabile Basis für gute transkulturelle Kooperationen, sind Orte und Veranstaltungen, wo Exilgemeinschaften zusammenkommen können.

Anastasiia Kosodii, Sie haben gesagt, dass Sie nach langfristigen Lösungen suchen; Sie wollen also hier in Deutschland als Dramatikerin Fuß fassen?

Anastasiia Kosodii
Nein, ich möchte nicht langfristig hier arbeiten. Ich hoffe immer noch, dass ich bald in die Ukraine zurückkehren kann. Aber ich habe trotzdem einen Wunsch für die Zukunft hier. Was wirklich wichtig ist als stabile Basis für gute transkulturelle Kooperationen, sind Orte und Veranstaltungen, wo Exilgemeinschaften zusammenkommen können. Vor allem in kleineren Städten. Aber selbst in einer internationalen Großstadt wie Berlin war ich überrascht, als zu einer Vorführung auf dem ukrainischen Filmfestival mehr als 500 Menschen kamen! Das hat mir gezeigt, wie wichtig diese Treffpunkte sind. Als gut vernetzte, im Ausland arbeitende Künstlerin sehe ich es als eine meiner Verantwortungen an, solche Möglichkeiten zu schaffen. Ich hoffe, dass auch deutsche Künstler:innen und Institutionen diese Bemühungen unterstützen. Ebenso wie die Schaffung langfristiger Projekte und Kooperationen, die dazu beitragen, dass die ukrainische Kultur sichtbarer wird und nicht nur von geflüchteten Ukrainer:innen, sondern auch vom deutschen Publikum wahrgenommen wird.

Nina de la Chevallerie ist Mitbegründerin des Freien Theaters boat people projekt aus Göttingen. Sie führt Regie und ist als Produzentin tätig. Sie baute eine Netzwerk- und Beratungsstelle für geflüchtete Bühnenkünstler:innen auf und ist gegenwärtig Vorstandsmitglied des Bundesverbands Freie Darstellende Künste.

 

Sophie Diesselhorst arbeitet als freie Kulturjournalistin und ist Redakteurin von nachtkritik.de. Sie studierte Philosophie (B.A.) und Journalismus (M.A.) in London und Berlin.

 

Anastasiia Kosodii ist eine Dramatikerin und Regisseurin aus Kiew. Vor Februar 2022 arbeitete sie als Dramatikerin und Kulturmanagerin mit NGOs in der Ostukraine in heutigen Frontstädten des Krieges zwischen Russland und der Ukraine. Seit der Spielzeit 2022/23 ist Anastasiia Kosodii Hausautorin am Nationaltheater Mannheim.

 

Maja Zade studierte Englische Literatur in London und Kingston, Kanada sowie Theaterproduktion an der Royal Academy of Dramatic Art in London. Seit 1999 arbeitet sie an der Schaubühne Berlin, seit der Spielzeit 2022/23 als leitende Dramaturgin. Ab 2012 Lehrtätigkeit an der Theaterhochschule Malmö und der Edinburgh University, sowie Jurymitglied des James Tait Black Prize for Drama. Außerdem arbeitet sie als Übersetzerin und seit 2019 auch als Autorin.