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15 Min

18.01.2022

Augenhöhe herstellen

Martine Dennewald und Kerstin Ortmeier im Gespräch mit Esther Boldt

Das Interview entstammt dem ITI Jahrbuch 2018.

Internationale Kooperationen und Koproduktionen mit Künstler:innen aus Afrika stellen besondere Fragen und Herausforderungen – in Sachen Ökonomie, aber auch Kommunikation und Transparenz. Für Kerstin Ortmeier, Kuratorin des Festivals africologne, und Martine Dennewald, Künstlerische Leiterin des Festivals Theaterformen, werden sie zum Anlass, über postkoloniales Kuratieren nachzudenken.

 

 

 

 

Nach meiner Erfahrung erfordern internationale Kooperationen langfristig aufgebaute Strukturen

Wir sprechen über zwei sehr unterschiedliche Festivals, über Theaterformen, das an den Staatstheatern Braunschweig und Hannover verankert ist, und über das biennale Festival africologne. Wie ist es bei Ihren Festivals zu den Schwerpunkten afrikanisch-deutscher Kooperation gekommen?

Kerstin Ortmeier
africologne entstand aus einer Kooperation heraus. 2010 wurde ich als Dramaturgin zum Festival Récréâtrales eingeladen, um dort sechs Wochen lang Produktionen zu begleiten. Das entstand aus einer Initiative von Gerhardt Haag, der Burkina Faso seit über zwanzig Jahren bereist. Er war damals Künstlerischer Leiter des Theaters im Bauturm in Köln, ich war dort Dramaturgin. Aus dieser ersten Zusammenarbeit heraus entstand der Wunsch, einige der Produktionen auch in Köln präsentieren zu können und in Kontakt mit den hiesigen afrikanischen Communities zu treten. Das war der Kickoff für das biennale africologne-Festival. Nach meiner Erfahrung erfordern internationale Kooperationen langfristig aufgebaute Strukturen. Natürlich kann mal etwas von jetzt auf gleich geschehen, das mag auch wundervoll, fruchtbar und kreativ sein, aber das gegenseitige Vertrauen, das Forschen an gemeinsamen Themen und die Auseinandersetzung auf Augenhöhe brauchen eine gewisse Zeit und ein großes Netzwerk.

Martine Dennewald, Sie legten bei Theaterformen 2018 einen Schwerpunkt auf Produktionen aus afrikanischen Ländern. Warum?

Martine Dennewald 
Die Entscheidung, das Festival 2018 an postkolonialen Themen und Untersuchungen auszurichten, war in den Vorjahren gewachsen. Jede Ausgabe des Festivals artikuliert sich an einer Recherchefrage. Für 2018 wollte ich versuchen herauszufinden, was es bedeutet, in einer postkolonialen Welt ein internationales Theaterfestival zu machen. Das ist eine sehr simple Frage, aber auch eine sehr breite, die viele Komponenten hat, und die nicht nur mit kuratorischen Fragen und Entscheidungen zu tun hat, sondern auch mit Arbeitsorganisation, mit Machtstrukturen, mit Deutungshoheiten, Kommunikation und Transparenz. Es war tatsächlich notwendig, den Apparat Festival einmal auseinander zu nehmen und anders zu strukturieren, um dem gerecht zu werden, was auf der Bühne stattfinden sollte.

Wie sah diese Umstrukturierung konkreter aus?

Martine Dennewald
Wir untersuchten fünf größere Bereiche: Wie werden kuratorische Entscheidungen getroffen, wer geht welches Risiko ein und mit welchem Engagement, wer rahmt Gespräche, wie gehen wir mit unserem Publikum um – das ist zwar eine Frage, die sich in jedem Jahr stellt, aber in diesem Jahr auf besondere Weise – und wer kann öffentlich unsere Arbeit einordnen und infrage stellen.

Welche Rückschlüsse haben Sie in Bezug auf zukünftige Koproduktionen gezogen? Hat sich die Art und Weise, wie mit ihnen umgegangen wird, geändert? 

Martine Dennewald
Erstens war klar, dass nicht immer nur die anderen das Risiko tragen können, und wir koproduzieren und produzieren müssen. Das taten wir beides. Es gab zwei Koproduktionen und drei kleine Produktionen in einem Residenzprogramm mit Künstler:innen aus Maputo, Südafrika und Nigeria, das die Dramaturgin Elisa Liepsch betreute. Und, um zurückzukommen zur ersten Frage, wie entschieden wird: ich tat mich mit zwei Kollegen zusammen, Quito Tembe aus Maputo und Ashraf Johaardien aus Grahamstown, wir teilten die kuratorische Entscheidung und überlegten, was wir koproduzieren möchten. Ich ließ mich dabei auf Künstler:innen ein, die ich bis dahin nicht kannte.

Kerstin Ortmeier
Wir durchliefen auch eine gewisse Entwicklung in Bezug auf das Produzieren und Koproduzieren. Und zwar dazu hin, dass wir viel mehr künstlerische Entscheidungen oder Konzepte den Künstler:innen überlassen, und wir weniger – was wir am Anfang noch stärker versuchten – zum Beispiel diesen deutschen Autor mit jenem burkinischen Regisseur verbinden, die sich bislang gar nicht kannten. Das kann total fruchtbar sein, aber es funktioniert nicht immer wie erhofft. Es gibt für uns zwei unterschiedliche Arten der Koproduktion: einmal kommen Künstler*innen mit einer fertigen Projektkonzeption auf uns zu oder wir sprechen sie an. Dann geht es darum, wie wir diese Gruppe und ihr Projekt, von dem wir begeistert sind, unterstützen können, finanziell, organisatorisch, logistisch. Die andere Variante ist eine internationale Koproduktion, bei der wir stärker in das konzeptionelle Erarbeiten dieser Produktion integriert sind.

Der Zustand der Welt ist ein postkolonialer, und das sollte sich im Programm niederschlagen

Die Aufarbeitung der Kolonialgeschichte steht in Deutschland noch am Anfang und im Sprechen über Afrika ist viel Unwissen am Werk. Wie gehen Sie bei Ihren Festivals mit diesem Mangel an Wissen um?

Kerstin Ortmeier 
Letztendlich geht es uns natürlich genau darum, eine Diversität zu präsentieren, und nicht alles über einen Kamm zu scheren. Unsere Arbeiten haben häufig einen sehr starken gesellschaftspolitischen Kontext und wir können mit dem Publikum in Einführungen, Themenabenden wie z.B. über den afrokaribisch-französischen Schriftsteller, Politiker und Mitbegründer des Konzepts der Négritude, Aimé Césaire, oder in Nachgesprächen ganz konkrete Themen verhandeln. Beispielsweise hatten wir 2015 „Nuit Blanche in Ouagadougou“ von Serge Aimé Coulibaly eingeladen, der sich zusammen mit dem Aktivisten und Rapper Smockey und dem Ensemble mit Formen des Aufstands beschäftigt hatte. Die Premiere dieser Arbeit war im Oktober 2014 in Ouagadougou, zeitgleich zum tatsächlichen Aufstand der Bevölkerung gegen den vom Westen – maßgeblich von Frankreich – gestützten Langzeitdiktator Blaise Compaoré. Da flossen künstlerische und aktivistische Positionen ineinander. Wir waren damals beim Festival zugegen und zutiefst beeindruckt vom Engagement der Zivilgesellschaft und vor allem auch der Künstler:innen und Intellektuellen, die wegweisend für ihr Land sein können. Wir veranstalteten beim africologne-Festival im Folgejahr ein Dialogforum, das seitdem als Diskursformat zum Programm gehört. Titel war „Das Ende der Geduld. Politischer Wandel und Protestbewegungen in Westafrika“, und wir sprachen mit Aktivist:innen, Künstler:innen und dem Publikum darüber. Denn es ist ja auch immer die Frage, was ist denn unser Bezug dazu, was hat das jetzt mit uns zu tun?

Martine Dennewald
Bei Theaterformen ist das ein bisschen anders, weil wir kein Festival mit einem afrikanischen Schwerpunkt machten. Der Zustand der Welt ist ein postkolonialer, und das sollte sich im Programm niederschlagen. Produktionen aus Australien, Kanada, Deutschland, Frankreich und Vietnam waren genauso vertreten wie Nigeria, Südafrika und Mosambik. Es gibt diese Öffnung in die Welt, in die unterschiedlichen Formen von Kolonialismus und neokolonialen Strukturen weltweit, und es war mir sehr wichtig, dass auch dort, wo wir Europäer:innen stehen, kein Vakuum bleibt. Weswegen es drei Positionen gab, die europäische Perspektiven auf postkoloniale Themen behandelten, nämlich Milo Rau mit „Mitleid“, Julian Hetzel mit „Schuldfabrik“ – auch wenn Hetzel nicht direkt Postkolonialismus verhandelt. Er verkauft in seiner szenischen Installation in Braunschweig eine Seife, die aus menschlichem Fett hergestellt wird, dem abgesaugten Fett aus Schönheitskliniken in Europa. Der Erlös des Verkaufs geht an ein Brunnenbauprojekt im Kongo, und auch Seife wird mitgeliefert. Hygiene und Trinkwasser für den Kongo! Da sind wir mitten im Thema. Sehr wichtig und zentral sichtbar im Festival war außerdem die Installation „Race Cards“ von Selina Thompson, ein Archiv über Rassismus. Dieses war eingebaut ins Foyer des Staatstheaters in Braunschweig, man musste daran vorbeigehen und kam nicht umhin, sich zu fragen, was das ist. Diese drei Arbeiten brauchte es, um das Programm hier zu verankern und um nicht konzeptionell bei der Aussage stehen zu bleiben, wir geben jetzt den Anderen die Bühnen, ist das nicht toll? Nein. Denn das reicht absolut nicht.

Welche Kooperationsmodelle gibt es konkret? Ich habe herausgehört, dass es bei africologne ein langjährig gewachsenes Netzwerk gibt, auf dessen Basis Kooperationen und Koproduktionen aufgebaut werden. Und bei Theaterformen wurden auch Entscheidungen abgegeben und mit ihnen Macht.

Kerstin Ortmeier
Das wollen wir auch machen, indem wir z.B. die Leitung des Dialogforum 2019 gern an den senegalesischen Ökonomen und Autor Felwine Sarr übergeben würden, weil wir denken, dass er relevante Themen einbringen wird und wir die nicht mehr vorgeben wollen. Auch geht es um das Abgeben von Deutungshoheit. Sarr veröffentlichte vor zwei Jahren das Buch „Afrotopia“ und entwickelt darin eine Vision von Dekolonisation, wie afrikanische Länder ihre Zukunft gestalten und in die eigene Hand nehmen könnten, jenseits davon, eine Marionette des Westens zu sein oder unsere Modelle zu reproduzieren.

Die Choreografin Nora Chipaumire aus Simbabwe sagte mir kürzlich im Interview, wenn man als sogenannte „afrikanische Künstlerin“ nicht der europäischen Ästhetik folgte, würde man nirgendwohin eingeladen. Ein Kanon, der „afrikanisch“ aussähe, würde nicht als zeitgenössischer Tanz rezipiert, sondern als Folklore. Wie sind Ihre Erfahrungen mit diesen Klassifizierungen?

Martine Dennewald 
Das mit der Folklore ist ganz zentral, weil sich sehr wenige darüber bewusst sind, dass die Idee von Folklore erst im 19. Jahrhundert entstand als romantische Idee einer Volkskunst. Die scharfe Trennlinie zwischen Kunst-Kunst und Volkskunst ist eine Erfindung der europäischen Moderne. Wenn Picasso in Anlehnung an bestimmte Masken die „Demoiselles d’Avignon“ malte, landete das als Kunst im Museum, aber die Masken kamen ins Volkskundemuseum. Es gab auch tatsächlich eine Produktion bei unserem Festival, die versucht hat, damit zu arbeiten, „Theka“, die Koproduktion mit Maputo. Zwei – unter anderem in Europa ausgebildete – zeitgenössische Choreografen, Horácio Macuácua und Idio Chichava, arbeiteten mit einer traditionellen mosambikanischen Tanzgruppe, der Associação Cultural Hodi. Diese Tanzgruppe hatte die entsprechenden Musiker dabei, aber es gab auch jemanden, der am Laptop elektronische Musik machte. Da sind wir mitten drin: Welches musikalische Material benutzt man, was trägt das eine zum Stück bei, was das andere? Sich dann als Festival hinzustellen und zu sagen, ja, es gibt Trommeln auf der Bühne, und das ist zeitgenössische Kunst, das ist nicht so einfach in unserem Kontext.

Es gibt zudem stets Zitate und Verweise in internationalem Theater, die für ein europäisches Publikum kaum lesbar sind, unabhängig davon, ob es nun um eine Produktion aus dem Iran geht oder aus Maputo.

Martine Dennewald
Man könnte diese Probleme systematisieren: Es gibt die Perspektive, den Blick oder die Erwartungshaltung, dass etwas, das zu folklorehaft aussieht, von vorn herein herausfällt. Es gibt ein Informationsdefizit, beispielsweise an historischem Wissen, und es gibt aber noch ein drittes, eklatantes Problem: dass man so schnell bereit ist, einem ganzen Kontinent die Kultur abzusprechen. Ein Kritiker schrieb über unser Festival, Theater und Kultur seien generell gar nicht so wichtig auf dem afrikanischen Kontinent: „Die Menschen haben andere Sorgen.“

Was Kerstin Ortmeier über das Zusammenkommen von Kunst und Aktivismus am Beispiel von „La nuit blanche à Ouagadougou“ berichtete, ist ja das Gegenteil.

Kerstin Ortmeier 
Ja, da fließen politisches und künstlerisches Engagement zusammen. Um auf die Frage nach ästhetischen Formaten zurückzukommen: Ich würde sagen, wir sind da erstmal total offen. Es kommt immer auf die inhaltliche Auseinandersetzung an, auf das, was transportiert wird, auf die Geschichten oder Emotionen. Inwiefern berührt uns etwas? Aber es gibt natürlich auch das Publikum, das unter afrikanischer Kunst etwas Folkloristisches erwartet. Dann geht es darum, das Publikum nicht in seiner Enttäuschung allein zu lassen, sondern es dahin zu führen, dass es eine große künstlerische Bandbreite gibt, mit der es sich lohnt, sich auseinanderzusetzen. Gerade in Köln ist das Publikum aber extrem offen.

Martine Dennewald 
Das Entscheidende in dem Kontext ist ja, dass diese Fantasien unterfüttert sind durch knallharte ökonomische Ungleichheiten, durch Verbrechen vieler Art, die nicht wir persönlich begingen, die aber in unserem Namen begangen wurden und von denen wir weiterhin profitieren. Das macht es in diesem Fall so virulent und so schwierig mit der Auseinandersetzung, und oft so persönlich. Deswegen ist die Diskussion, die ich mit einer japanischen Künstler:in über kulturelle Unterschiede führe, über Nicht-Wissen und meinetwegen auch Machtverhältnisse – denn der Kunstmarkt ist schon auch so strukturiert, dass Europa da ein besonderes Gewicht hat – eine andere als mit einer nigerianischen Künstler:in.

Wie gehen Sie mit diesem ökonomischen Machtgefälle um? Ein Großteil der Koproduktionsmittel kommt ja sicher aus Ihren Händen.

Kerstin Ortmeier: Man könnte sagen, Geld bedeutet Macht. Aber es geht genau darum, diesem nicht zu viel Macht zu verleihen. Natürlich haben wir hier bessere Möglichkeiten, Gelder zu akquirieren, als eine Künstler:in beispielsweise im Senegal. Viele Produktionsmittel kommen aus Europa. Aber wenn wir gemeinsam eine Produktion umsetzen wollen, dann spielt es keine große Rolle, wie viel wir geben und wie viel von dort kommt. Es geht vielmehr darum, gemeinsam etwas auf den Weg zu bringen, und jeder tut dafür, was möglich ist.

Sie leiten aus den Geldern keine Rechte ab?

Kerstin Ortmeier
Genau. Und wir bezahlen allen Künstler:innen in einem Projekt die gleiche Gage, unabhängig davon, aus welchem Land sie kommen, obgleich die Lebenshaltungskosten sehr unterschiedlich sind. Auch dadurch versuchen wir, eine Kooperation auf Augenhöhe herzustellen. Natürlich ist es nicht immer einfach, Fragen gemeinsam zu lösen, aber es sollte sich nicht davon unterscheiden, ob man mit Partner:innen hierzulande oder aus einem afrikanischen Land zusammenarbeitet.

Aber sind Sie nicht das Zünglein an der Waage, können Sie nicht verhindern, dass eine Produktion überhaupt stattfindet? Oder gibt es in Burkina Faso oder Nigeria genug Koproduzent:innen, um sie auch ohne eine europäische Koproduktion zu realisieren?

Kerstin Ortmeier
Das kommt auf die Künstler:innen an. Einige, die international bekannt sind, haben ein breites Netzwerk und zum Teil ein Standbein in Europa. Und es gibt natürlich andere, bei denen es schon an einer Partner:in hängt, ob das Projekt zustande kommt oder nicht.

Aber ich freue mich in dem Augenblick, in dem ich das Gefühl habe, eine Künstler:in kriegt es hin, mich in dem Maß zu benutzen, wie ich sie oder ihn benutze.

Aber könnte beispielsweise der bereits erwähnte Choreograf Serge Aimé Coulibaly auf dem Niveau, auf dem er jetzt arbeitet, ohne europäische Koproduktionen produzieren?

[Allgemeines Kopfschütteln]

Kerstin Ortmeier
Nein. Aber es gibt natürlich auch Projekte, die aus einem Engagement von Künstler:innen heraus entstehen ohne europäische Gelder, und die gehen auch ihren Weg. Wir präsentieren auf der einen Seite Arbeiten von Künstler:innen, die inzwischen sehr renommiert sind und dadurch leichter ihre Produktionsmittel finden, auf der anderen Seite laden wir Künstler wie Peter Kagayi ein, der mit seinen Freunden in Uganda die Arbeit „The audience must say Amen“ ohne irgendwelche Fördermittel auf die Bühne brachte.

Martine Dennewald
Ich bin etwas skeptischer, was die Augenhöhe anbelangt. Ich weiß, dass es ein großes Bemühen gibt von unserer Seite, diese Augenhöhe zu halten, und es spricht ja schon Bände, dass ich es so formuliere, als ‚Bemühen’. Das beinhaltet nicht nur finanzielle Fragen, sondern auch Transparenz und Kommunikation. Letzten Endes ist es aber so, dass ich eine Einladung ausspreche. Ich spreche ja auch die Einladung aus, mit den beiden Kollegen in Maputo und Grahamstown zusammen etwas zu machen und damit einen Teil nicht meiner Verantwortung, aber meiner kuratorischen Arbeit abzugeben. Ich glaube, damit wir sagen könnten, es gäbe keinen Unterschied mehr zwischen einer Künstler:in aus Tokio und einer aus Lagos, müsste die Welt sich in einem Maß verändert haben, wie ich überhaupt nicht darauf Einfluss nehmen kann. Aber ich freue mich in dem Augenblick, in dem ich das Gefühl habe, eine Künstler:in kriegt es hin, mich in dem Maß zu benutzen, wie ich sie oder ihn benutze. Wenn jemand diesen Rahmen ‚Festival’ strapaziert, die Institution strapaziert und gerne ein bisschen rücksichtslos unsere Ressourcen nutzt und benutzt. Das finde ich gut. Da stellt sich die Augenhöhe her.

Wie kontextualisieren Sie Ihr Programm?

Kerstin Ortmeier
Bei uns gibt es unter anderem ein Filmprogramm, szenische Lesungen, Ausstellungen, Workshops, Publikumsgespräche oder Themenabende. Und natürlich das bereits erwähnte Dialogforum, eine Konferenz, die 2015 erstmals stattfand und politische Themen aufgreift.

Martine Dennewald
Wir haben eine Reihe verschiedener Formate, die wir in Zusammenarbeit mit der Theaterpädagogin Marie-Luise Krüger entwickeln. Erstmals gab es zudem „Watch & Write“, eine Idee des Journalisten Parfait Tabapsi aus Kamerun, der mir vorschlug, eine Gruppe afrikanischer Journalist:innen einzuladen zum Festival. Im Rahmen des TURN-Antrags bei der Bundeskulturstiftung war dies 2018 möglich. Auf einen Open Call hin luden wir zwölf Kulturjournalist*innen aus zehn Ländern ein, meist aus solchen, aus denen auch Produktionen kamen. Sie sahen alle Stücke und sie veröffentlichten beim Festivalblog und bei nachtkritik.de Texte, die sich nicht nur mit dem Festival auseinandersetzten, sondern auch mit der eigenen Theaterherkunft. Es entstanden tolle Texte, die Dinge beschrieben, die ich nicht sehen kann – und die keine europäische Journalist:in schrieb. Es brauchte diese Perspektive. Und es ist schade, dass ich das nicht jedes Jahr machen kann, aber ich kriege für solche Formate außerhalb des TURN-Fonds keine Förderung.

Bisweilen müssen Vorstellungen von Künstler:innen aus Afrika ausfallen, weil sie kein Visum bekommen. Wie sind Ihre Erfahrungen?

Kerstin Ortmeier
Bislang bekamen wir nur einmal ein Visum nicht. Ein Schengen-Visum war von den belgischen Behörden verweigert worden, aber der kongolesische Künstler erhielt dann ausnahmsweise ein Visum von der Deutschen Botschaft, weil wir sehr eng mit dem Auswärtigen Amt zusammenarbeiten. Einige der Produktionen werden ja auch aus deutschen Steuergeldern gefördert, da wäre es absurd, wenn Künstler:innen nicht anreisen dürften.

Martine Dennewald
Wir hatten in diesem Jahr mehr Visaprobleme als sonst, und wir versuchen das natürlich gut vorzubereiten, das Goethe-Institut vor Ort weiß beispielsweise immer Bescheid. Nur ein Visum für einen Journalisten aus dem Senegal wurde letztlich nicht bewilligt. Wir versuchen auch in einem solchen Fall bis zum allerletzten Moment im Gespräch mit der jeweiligen Botschaft zu bleiben. Das nimmt natürlich sehr viel Zeit und Energie in Anspruch. Es ist schwierig, aber weil es schwierig ist, muss man es tun.

Martine Dennewald studierte Dramaturgie in Leipzig und Kulturmanagement in London. Von 2007 bis 2011 war sie Schauspielreferentin und Kuratorin des Young Directors Project bei den Salzburger Festspielen. 2012 ging sie als Dramaturgin ans Künstlerhaus Mousonturm in Frankfurt, das sie bis Juli 2014 gemeinsam mit Marcus Droß und Martina Leitner interimistisch leitete. 2015 übernahm sie die Leitung des Festivals Theaterformen.

 

Kerstin Ortmeier ist Dramaturgin, Kuratorin und Projektleiterin des von ihr mitbegründeten africologneFESTIVALs in Köln. Sie studierte Neuere deutsche Literaturgeschichte, Romanistik sowie Theater- und Medienwissenschaften in Erlangen und Aix-en-Provence. Sie war am Staatstheater Nürnberg, für das Internationale Tanz- und Theaterfestival off limits in Dortmund, die Mülheimer Theatertage, Kampnagel Hamburg sowie das Festival Récréâtrales in Burkina Faso tätig und arbeitete mehrere Jahre am Theater im Bauturm in Köln.

 

Esther Boldt arbeitet als Autorin, Tanz- und Theaterkritikerin für Zeitungen und Magazine wie nachtkritik.de, Theater heute, ZEIT ONLINE, etc. Sie verfasste Essays über zeitgenössisches Theater für verschiedene Buchpublikationen und ist in einer Reihe von Jurys tätig.