Vor fast eineinhalb Jahren erhielt ich vom deutschen Zentrum des Internationalen Theaterinstituts den Auftrag, die Jahrestagung zu konzipieren und zu kuratieren und dabei einen besonderen Schwerpunkt auf Gleichheit und Hybridität in transnationaler Zusammenarbeit zu setzen. Für die generelle strategische Entwicklung der Aktivitäten und Strukturen des Zentrums war das ein wichtiger Schritt, da er darauf abzielte, inmitten der politischen Kritik an Diskriminierungsfällen in vielen deutschen Kultureinrichtungen ein zentrales und doch heikles Thema aufzuwerfen und anzusprechen; die Diskussionen der Tagung sollten auch zum Diskurs beitragen, jedoch über intellektuelle Debatten hinausgehen und versuchen mit Beiträgen deutscher und internationaler Gäste eine empathische und emotionale Sensibilität herzustellen.
Zum ersten Mal hat das ITI – Zentrum Deutschland eine solche Aufgabe einer „externen“ Kuratorin übertragen. Schon das war eine große Prüfung – sowohl für sie wie auch mich. In welchem Umfang würde ich auf ein vorgegebenes Thema hinarbeiten können, das dort bereits im Vorfeld relevant war und zur jüngsten Geschichte gehört? Einerseits würde sich jeder meiner Schritte auf diese Geschichte beziehen, andererseits könnte jeder meiner Schritte aber auch den weiteren Verlauf dieser Geschichte beeinflussen. Für das ITI – Zentrum Deutschland bestand der Test darin, wie viel Vertrauen, Unterstützung und Freiheit es mir als Kuratorin würde entgegenbringen können.
Die Auswirkungen von COVID-19 führten dazu, dass die ursprünglich für November 2020 geplante Veranstaltung verschoben wurde, bis sie schließlich am 19. Juni 2021 in hybrider Form stattfand und so jene hybriden Formate, die in der Veranstaltung diskutiert wurden, praktisch erprobte. Mit der veränderten Struktur der Tagung und dem Konzept „Hybridität & Gleichheit?“ wurde aus einer Befragung oder einer Fragestellung eine Bestätigung der Notwendigkeit. Für beide Parteien erwies sich die Prüfung als viel schwieriger als erwartet, da alle Wechselhaftigkeiten des Lockdowns und die fortgesetzte Instabilität innerhalb deutscher Kulturorganisationen eine solche Veranstaltung erschwerten und immer komplexer machten. Von Augusto Boals Theater der Unterdrückten hatte ich jedoch gelernt, dass im Höhepunkt einer Krise auch die größtmöglichen Chancen liegen. Angesichts des Drucks und der Herausforderungen wünschten wir uns alle noch dringender einen Erfolg und wollten ein Vorbild für die Zusammenarbeit einer etablierten Institution mit einer Einzelperson schaffen, ganz zu schweigen davon, dass diese Person – nämlich ich – eine migrantische PoC und eine Frau ist! Wir befanden uns im Kern des Themas der Jahrestagung, unsere Zusammenarbeit erwies sich als direkte Übung in Hybridität und Gleichheit. Für mich war das ein Beleg dafür, dass wir uns genau auf dem richtigen Weg befanden und dass das Symposium nicht nur eine intellektuelle Übung oder eine alljährlich vom ITI – Zentrum Deutschland organisierte Veranstaltung war, sondern eine echte, tägliche und konkrete Praxis zum Erlernen von Autonomie in der Zusammenarbeit, die im Gegensatz zur üblichen Machthierarchie auf Gleichheit zwischen den individuellen Arbeiter:innen und einer etablierten Institution setzt. Immer wieder erkannten wir, was es bedeutet, die Dynamik von Dialog und transnationalen Begegnungen zu nutzen, um die eigenen tradierten kolonialen Verhaltensmuster und Diskriminierungsstrukturen zu verändern.
Als Frau fand ich es ausgesprochen schwierig, in vorwiegend männlichen Teams zu arbeiten, die stark patriarchalen sozialen Verhaltensmustern folgten
Boals Vorstellung, dass auf dem Höhepunkt einer Krise die Chance zum Wandel läge, hat sich vielfach bestätigt. Immerhin hat mich das Theater der Unterdrückten 2005 dazu gebracht, Projektmanagerin am ITI – Zentrum Deutschland zu werden, als die erste Zusammenarbeit mit dem ITI -Zentrum Sudan zum Aufbau des Centre for Theatre in Conflict Zones in die Wege geleitet wurde – damals eines der ersten Kultur- und Kunstprojekte, die vom Institut für Auslandsbeziehungen finanziert wurden, und bis heute ein Vorbild für gleichberechtigte, transnationale Zusammenarbeit. Ich erinnere mich, wie wir vor sechzehn Jahren gemeinsam vor Ort mit unserem ersten Training zum Thema Diversität, Transparenz und vollwertige Partnerschaft begannen, das ebenfalls von der Philosophie des Theaters der Unterdrückten und einem feministischen Blickwinkel inspiriert war und mich zu den Workshops mit Barbara Santos führte. Als Frau fand ich es ausgesprochen schwierig, in vorwiegend männlichen Teams zu arbeiten, die stark patriarchalen sozialen Verhaltensmustern folgten. Dass ich als Ägypterin Projektmanagerin für die deutsche Seite war, machte die Sache noch komplexer. Gelegentlich kam es mir so vor, als befänden wir uns mitten auf der Kreuzung aller Bereiche, die es zu dekolonisieren galt: Patriarchat, koloniales Denken (von der ausübenden und unterdrückten Seite gleichermaßen) und Repräsentation. Und genau diese Themen wollte ich mit meinen Arbeiten als Performerin, Autorin, Choreografin und Theaterleiterin in Ägypten verändern. Wohin ich auch reiste und wo ich auch arbeitete, die Themen waren schon da, auch als ich 2015 nach Deutschland umzog. Nur Rassismus kam noch mit auf die Liste, aber Rassismus hat zu viele Facetten und taucht auch unter Unterdrückten gegeneinander auf. Verinnerlichter Rassismus ist auch Teil der traditionellen Pädagogik von Unterdrückung und Unterwerfung.
Jedes Training im Rahmen unserer transnationalen Zusammenarbeiten hatte daher vorwiegend eine Übung in Selbstkritik zu sein, in der Dekolonisierung unseres Wissens über uns selbst und andere sowie in Kritik der Arbeitsweisen unserer Institutionen. Der Erfolg des Centre for Theatre in Conflict Zones war eher ein Erfolg der Entwicklung der beiden beteiligten Parteien, der deutschen und der sudanesischen. Das ägyptische Individuum – also ich –, welches gelegentlich der Definition hinsichtlich seiner Nationalität bedurfte, arbeitete als Katalysator, Mediatorin oder als Brücke. Eine Brücke kann auch eine Kreuzung sein, auf die anliegende Themen projiziert werden. Dennoch betont sie den Konflikt, sie verschärft den dekolonisierenden Blick und eskaliert das Potenzial des Moments des Wandels. Doch zurück zur Jahrestagung 2021: Zwar war das gegenseitige Vertrauen schon vor Jahren aufgebaut worden, dennoch war es immer noch riskant, experimentelle Formate und eine emotionale Dimension einzuplanen, die auf Fachtagungen fast nie vorkommt. Durch dieses Konzept der Tagung sollten die Grenzen zwischen intellektuellem Austausch und emotionaler Wirkung, zwischen kritischer Debatte und performativer Dimension von Musik, Gesang und Dichtung sowie zwischen Konfrontation und menschlicher Verbindung verwischt werden. Für mich kann ein Symposium auch Darbietung und eine kritische Diskussion auch emotional sein, ein Lied kann politisches Manifest und ein poetischer Monolog transformierte Machtdynamik sein. Jede Identität ist ganzheitlich und kann in ganzheitlichem Sinn verwirklicht werden.
Die Beiträge variierten zwischen institutionellem Austausch, Präsentationen von Kulturaktivist:innen und Gesprächen von Theaterfestivalproduzent:innen und Künstler:innen. Der Grad an Aufrichtigkeit war außergewöhnlich. Aufrichtigkeit ist ein wichtiger Faktor auf dem Weg zu Gleichheit, Gemeinschaftlichkeit und Entwicklung. Begriffe unzusammenhängender Themen füllten den Bildschirm der digitalen Begegnung wie eine Wortauktion, zum Beispiel Finanzierung, Dekolonisation, Zuschauerschaft, Isolation, Privileg, Rassismus, Hierarchie, Schubladendenken und Etikettierung, Objektifizierung, Stigmatisierung, Exotisierung, Solidarität, Normalität, der Blick, kulturelle Gerechtigkeit, Zusammensein, Transformation und Menschlichkeit. Den Test schienen wir zu bestehen und steigerten die Herausforderung und den Schwierigkeitsgrad sogar noch, indem wir unsere eigenen Institutionen unter die kritische Lupe nahmen, darunter auch das ITI – Zentrum Deutschland selbst. Es ist sehr gut möglich, Kritik an der Dynamik von Hegemonie in der transnationalen, künstlerischen Zusammenarbeit zu unterstützen und gleichzeitig die Institution zu kritisieren, für die man arbeitet. Tatsächlich ist keine Kritik oder Konferenz, die Selbstkritik außer Acht lässt, wirklich ernst zu nehmen und effektiv. Die Herausforderung, die Jahrestagung zu kuratieren, während das ITI – Zentrum Deutschland sich in einem Umwandlungsprozess befand, kam genau zum richtigen Zeitpunkt, da beide Vorgänge – die Organisation der Jahrestagung und die institutionelle Umorientierung – Hand in Hand gingen und sich gegenseitig auf ideale Weise beeinflussten.
Wenn man Anlässe schafft, zu denen aktivistische Sprecher:innen und Künstler:innen Beiträge leisten können, kann auch das zu strategischer Veränderung führen.
Bei den Vorstandswahlen im Juni 2021 wurde zum ersten Mal eine Frau zur Präsidentin des deutschen Zentrums des Internationalen Theaterinstituts gewählt: Yvonne Büdenhölzer. Angesichts der vielen Frauen im Bereich darstellende Kunst in Deutschland erschien die Tatsache, dass während des fast siebzigjährigen Bestehens nie eine Frau diese Stellung bekleidet hatte, als eine große Ungerechtigkeit. Dasselbe gilt für Frauen in diesem Bereich weltweit. Im Kern der Ungerechtigkeit und Diskriminierung im Kreativsektor bleiben patriarchale Führungsvorstellungen bestehen. Jedoch könnte sich das ändern. In Erwägung, dass auch das Patriarchat eine kolonisierende Kraft ist, kann der Austausch kritischer Ideen zu institutioneller Dekolonisation führen. Wenn man Anlässe schafft, zu denen aktivistische Sprecher:innen und Künstler:innen Beiträge leisten können, kann auch das zu strategischer Veränderung führen. Solche Veränderung muss immer für jeden einzelnen Menschen funktionieren, der – jenseits der Trennlinie und der Kolonisierung von Wissen und Denksystemen – Anspruch auf seine Identität und Kreativität erhebt. Auch diese Einzelnen bedürfen des Muts, Verantwortung zu übernehmen und gelegentlich Privilegien aufzugeben. Dies ist auch eine Übung in Destabilisierung und eine schwierige überdies, da sie zeitgleich mit einer weltweiten Veränderung unserer Sicherheit, Lebenswerte und menschlicher Isolation geschah. Dennoch könnte es aus genau diesem Grund funktionieren. Wie gesagt: Krise und Gelegenheit. Oder eher: Krise ist Gelegenheit
Zwar zwangen uns die Bedingungen der Pandemie dazu, die Jahrestagung digital abzuhalten, jedoch konnten wir durch das digitale Streaming auch eine Aufzeichnung der Veranstaltung herstellen, mit dem wir ein breiteres Publikum erreichen und zugleich die Konferenz archivieren konnten. Auf diese Weise konnten wir einen Beitrag zum allgemeinen Diskurs im deutschen Kulturbereich leisten und eine Dokumentation der Begegnung erstellen, die über den bestimmten Zeitpunkt hinaus weiterhin zum Abruf zur Verfügung stehen. Wir konnten über die Gegenwart nachdenken und – im Bewusstsein, dass alle Gegenwart Vergangenheit wird – die Zukunft im Blick behalten. Dennoch glaube ich, dass Zeit keine Grenzen kennt: Zeit ist fortlaufend, voller Querverbindungen und Verflechtungen. Nichts verschwindet, alles wandelt sich. Durch fortgesetztes Lernen und Training bauen wir Wissen und Expertise auf. Projekte, die wir seit 2005 verwirklich haben – z. B. Centre for Theatre in Conflict Zones –, bei denen alles auf dem Prüfstand war, haben uns zum gegenwärtigen Moment des Umbaus der institutionellen Identität des Zentrums Deutschland des ITI geführt und dieser wiederum zu den jüngsten Vorstandswahlen und nun zur bevorstehenden ITI-Akademie, bei der eine neue Generation von Festivalleiter:innen sich auf ihre eigenen zukünftigen Visionen vorbereiten kann. In meiner Erfahrung sind Sudan, Brasilien, Ägypten und Deutschland miteinander verbunden. Ich bleibe Mediatorin und brückenschlagende Identität, dennoch verwandle ich mich auch aufgrund dieser Funktion und folglich verwandelt sich auch die Funktion dadurch. Meine Heimatstadt habe ich gewechselt und mich selbst neu aufgestellt, dennoch bleibt der Drang, meinen künstlerischen Ausdruck zu befreien und meinen sich wandelnden Körper auf der Bühne jenseits von Normen und Gender zu behaupten. Ich bin mir meiner Wirkung bewusst. Ich begreife, wie ich Zeit und Geschichte in der migrantischen Identität mit mir trage. Ich begreife: Auch ich verfüge über Macht.
Die Zukunft beginnt mit dem, was wir heute aufbauen. Wenn wir auf unsere Körper hören, lernen wir etwas über Veränderung. Unsere Institutionen müssen von unseren persönlichen und intimen Veränderungen lernen, aber eine Institution beginnt immer mit dem Individuum, während ein Individuum nicht unbedingt eine Institution sein muss, um funktionieren zu können.
Unsere Körper befinden sich in fortwährendem Wandel. Indem wir unsere Vorstellungen von Diskriminierung und Teilung aufgeben, nutzen wir eine Gelegenheit, unsere darstellenden Kulturen und Künste zu dekolonisieren, die Mächte des Patriarchats und des Kolonialismus zu schwächen und die Autorität über unsere Kulturproduktion jenseits weißer Vorherrschaft, der Kolonisierung von Wissen und ausbeuterischer Ökonomien zurückzugewinnen. Außerdem müssen wir in der lokalen Produktion darstellender Kulturen alternative Verhaltensweisen praktizieren – die gesamte Geschichte des freien Theaters in Ägypten ist dafür beispielhaft, Vorbild für kontinuierlichen Wandel, mit dem eigene Produktionsweisen als Alternative zur staatlich kontrollierten Kultur geschaffen wurden – und dabei gleichzeitig revolutionäre Strukturen transnationaler Zusammenarbeit wählen, die ihre eigenen Ökonomien und kreativen Strategien entwickeln. Wir könnten sie sogar „grenzüberschreitende Kollaborationen“ nennen, um sie von Kollaborationen zwischen „Nationen“ zu unterscheiden. Auch die Formate müssen revolutioniert werden, denn sie sind bis zur Stagnation stigmatisiert. Ein Symposium kann auch Performance sein und mittels einer Performance können auch neue Theorien und neues Wissen entstehen. Empathie ist eine mächtige Waffe bei der Dekolonisierung und auch um die Würde, die durch die Tradition des Rassismus und kultureller Unterwerfung gebrochen wurde, wiederherzustellen. Die Zukunft beginnt mit dem, was wir heute aufbauen. Wenn wir auf unsere Körper hören, lernen wir etwas über Veränderung. Unsere Institutionen müssen von unseren persönlichen und intimen Veränderungen lernen, aber eine Institution beginnt immer mit dem Individuum, während ein Individuum nicht unbedingt eine Institution sein muss, um funktionieren zu können. Seien wir alle ein sich verändernder Körper, jenseits der Grenzen und Hindernisse, die uns von Machtinteressen auferlegt werden, und jenseits der globalen Tradition der Ungerechtigkeit. Denn in der Krise liegt die Chance.
Nora Amin ist Performerin, Choreografin, Autorin, Theaterregisseurin und Kulturpolitikwissenschaftlerin. Sie gründete die freie Theatergruppe Lamusica (Ägypten) und das Egyptian Project for Theatre of the Oppressed und sein arabisches Netzwerk. Nora Amin ist Fellow des Centre for Theatre of the Oppressed, der Akademie der Künste der Welt, des International Research Centre for Interweaving Performance Cultures, außerdem Valeska-Gert Gastprofessorin für Tanzwissenschaft, Gastdozentin an der Hochschule für Musik und Tanz, Köln; Workshopleiterin bei Tanzfabrik Berlin und Berlin Mondiale, Mentorin des Performing Arts Programm, Berlin und beim Festival und Bundesnetzwerk flausen+.