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24.06.2022

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Bárbara Santos

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Elena Fiebig

Feministische Ästhetik für eine politische Poetik

Wie Theater hilft, das Erlebte zu benennen

Die kapitalistische Gesellschaft propagiert, dass jede:r für den eigenen Erfolg und das eigene Scheitern verantwortlich ist. Beides wird als direkte Konsequenz persönlicher Wahl und Entscheidungen verstanden. Leistung und individuelle Anstrengungen, zumeist die der eigenen Familie, dienen als Parameter der Analyse von Privilegien und sozialer Benachteiligung. Dieser individualistische Ansatz eines Gesellschaftsverständnisses kann strukturelle Probleme verschleiern, wodurch  der Eindruck entsteht, dass unser Privatleben autonom von sozialen Strukturen existiert. Wenn private Fakten keinen Bezug zu sozialen Phänomenen haben, verfügen diejenigen, die sie erleben, nur über wenig Ressourcen, sie zu verstehen oder zu benennen. Das Theater kann dieses Narrativ unterstützen oder es in Frage stellen.

1990 lernte ich das Theater der Unterdrückten und den Autor Augusto Boal kennen, der diese Methode systematisiert hat. Er propagiert, Räume für den Dialog zwischen Bühne und Publikum zu öffnen. Es ist eine der am häufigsten praktizierten Theatermethoden der Welt. Ich habe mit Boal bis zu dessen Tod 2009 im Zentrum des Theaters der Unterdrückten in Rio de Janeiro zusammengearbeitet. Ich habe nationale und internationale Projekte koordiniert, Regie geführt und in künstlerischen Produktionen mitgespielt. Ich war Mit-Autorin innovativer Techniken wie der des Legislativen Theaters (1993/96, Gesetzesvorschläge und politische Aktionen wurden aus der Interaktion des Publikums mit den Theaterstücken entwickelt) und der Ästhetik der Unterdrückten (1999/2009, Aktivitäten, die dazu dienten, die ästhetische Wahrnehmung – von Ton, Bild, Wort – unterdrückter Gruppen zu fördern). Das Theater der Unterdrückten bildet eine Schnittstelle zwischen Kunst und Aktivismus, es verbindet künstlerische Produktion mit politischem und sozialem Bewusstsein. 

In Brasilien, wie auch in Dutzenden anderen Ländern, haben wir kollektive ästhetische Prozesse für die Erarbeitung von Stücken zu verschiedenen Aspekten der Realität entwickelt: sexistische Gewalt, Rassismus, Gender-Ungerechtigkeit, Probleme von Jugendlichen, Arbeitsrechte, Diskriminierung, Missstände im Gefängnissystem und vieles mehr. Dank dieser Erfahrungen kam es uns vor, als wären wir uns der Übel des Patriarchats und des Kapitalismus bewusst, als hätten wir gelernt, die daraus resultierenden Ungerechtigkeiten zu erkennen, und wären bereit, ihnen entgegenzutreten.

2009 nahm bei internationalen Theater der Unterdrückten-Veranstaltungen die Kritik an Produktionen zu, deren weiblichen Protagonistinnen die Schuld an der Unterdrückung gegeben wurde, der sie sich gegenübersahen, und die aufgrund der Schwäche ihrer individuellen Reaktionen und ihres Mangels an Strategien gedemütigt wurden. Als Frauen, die diese Theatermethode praktizierten, standen wir vor der Herausforderung, Wege zu finden, um zu problematisieren, dass dieses Narrativ oft von weißen, heteronormativen cis-Männern mit Mittelklassehintergrund inszeniert wurde, die unter den Moderator:innen künstlerischer Schaffensprozesse sowie beim Dialog mit dem Publikum bei öffentlichen Veranstaltungen die Mehrheit bildeten. Wie in anderen Bereichen auch waren im Theater der Unterdrückten fast alle Räume, die mit Sichtbarkeit, Prestige und Macht einhergingen, von männlichen, weißen, privilegierten Körpern besetzt. Obwohl das Theater der Unterdrückten politisches Bewusstsein einforderte, neue Perspektiven auf uns selbst und einen kritischen Blick auf die Welt vor unseren Augen ermöglichte, fehlte es ihm an wirksamen anti-patriarchalen Gegenmitteln.

Wir wollten eine wirksame Kritik der Macho-Repräsentationen und der Unterdrückung erarbeiten, der sich Frauen gegenübersahen, weil sie Frauen waren, aber wir wollten auch untersuchen, wie sich feministische Narrative entwickeln ließen, die die Komplexität dieser Erfahrungen adressieren konnten, ohne dabei der Protagonistin die Schuld zu geben, sie als Opfer einzustufen oder patriarchale Gewalt als normal darzustellen. Wir fragten uns, wie wir subjektive Perspektiven wertschätzen und gleichzeitig den Individualismus dieses Ansatzes hinter uns lassen konnten, unter Berücksichtigung des Einflusses sozialer Strukturen auf persönliche Beziehungen.

Als Frauen, die diese Theatermethode praktizierten, standen wir vor der Herausforderung, Wege zu finden, um zu problematisieren, dass dieses Narrativ oft von weißen, heteronormativen cis-Männern mit Mittelklassehintergrund inszeniert wurde, die unter den Moderator:innen künstlerischer Schaffensprozesse sowie beim Dialog mit dem Publikum bei öffentlichen Veranstaltungen die Mehrheit bildeten

2010 haben wir das Magdalena Laboratory gegründet, ein ästhetisches Forschungslabor ausschließlich für Frauen (cis und trans), das der künstlerischen Produktion neuer Narrative und der Entwicklung einer feministischen Sichtweise auf das Theater der Unterdrückten dient. Wir wollten sowohl methodologisch als auch mit dem Training weiblicher Moderatorinnen vorankommen, denn uns war bewusst, dass unsere Körper, Stimmen und Sichtweisen präsent sein und alles vom kreativen Prozess bis hin zum Dialog mit dem Publikum beeinflussen sollten. Zwischen 2010 und 2013 habe ich selbst Dutzende von Magdalena Laboratories in Lateinamerika, Europa, Afrika und Asien moderiert. Seitdem haben wir bei internationalen Treffen kollaborative Netzwerkarbeit betrieben, um weibliche Moderatorinnen im Training zu unterstützen, politische Äußerungen zu stärken und methodologische Vorstöße zu systematisieren. Unser Ziel war es, eine operationale Struktur zu schaffen, die sich weg vom Zentrum/Peripherie-Format hin zur Idee des Rhizoms bewegte1.

Daraus ist das Ma(g)dalena International Network entstanden (https://teatrodelasoprimidas.org), ein feministisches, antirassistisches Netzwerk für künstlerischen und aktivistischen Ausdruck, das ästhetisches Werkzeug für die Produktion antipatriarchaler Narrative entwickeln und weiterverbreiten sowie einen horizontalen und transversalen Dialog fördern möchte, der das Publikum dazu animiert, sich der Suche nach kollektiven Strategien zu verschreiben und die vorkommenden Unterdrückungsmechanismen zu überwinden.

Das feministische Theater der Unterdrückten  (Teatro de las Oprimidas) hat sich aus dieser Unternehmung entwickelt, es will den individualistischen Ansatz in der theatralen Darstellung überwinden, in dem es den sozialen Kontext einbezieht, der die persönliche Wahl des unterdrückten Subjekts einschränkt (oder oft ganz unterbindet). Als ästhetischer und politischer Arbeitsprozess gibt es Aufschluss über die Variablen, die auf eine gegebene Situation Einfluss nehmen, um die Unterdrückungsmechanismen offenzulegen, die das patriarchale System dahinter stützen. Bei diesem Ansatz wird Unterdrückung als kollektives Problem verstanden, das verschiedene Gruppen und soziale Akteur:innen betrifft, und nicht als individuelles Scheitern. In Foren2 wird das Publikum dazu ermutigt, sowohl die Komplexität des dargestellten Problems als auch die Möglichkeiten kollektiver Intervention zu erkennen, die den Einzelnen in ihrer jeweiligen sozialen Position zur Verfügung stehen (Rasse, soziale Klasse, Gender, Beruf etc.). Diese Methodologie wertschätzt, mithilfe einer feministischen Ästhetik, die künstlerische Perspektive und den strukturellen Ansatz von Theaterproduktion. Sie steht – da sie ein umfassendes Methodenpaket beinhaltet, das wir lehren und weitergeben – für jede:n zur Verfügung, der / die das Patriarchat überwinden möchte.

Wir erwarten jedoch nicht, dass sich jede:r als Feminist:in versteht, um an den ästhetischen Prozessen teilzuhaben, die wir in den Magdalena Laboratories entwickeln. Uns ist bewusst, dass das patriarchale System soziale Bewegungen kriminalisiert, Feminismus entlegitimiert und alle vorhandenen Mittel einsetzt, insbesondere ästhetische, um moralistische und antifeministische Vorstellungen zu schaffen, die Frauen davon überzeugen sollen, dass ihre Körper nicht ihnen gehören, da sie Schuld und Schande der angeblichen „Erbsünde“ in sich tragen, was immer weiter dazu verwendet wird, die Tragödien zu rechtfertigen, die sie erleben.

Der Ausgangspunkt für diesen ästhetischen Ansatz sollte immer bei den Teilnehmerinnen liegen: Bildung, Traumata, Wissen, Kulturen, Arbeit, Rassismus- und Klassismus-Problematiken etc., die ihren Lebenserfahrungen entsprechen. Erfahrungen, die oft als persönliches Scheitern oder individuelles Schicksal verstanden werden, und daher durch die Isolation der Protagonistinnen kein Gehör finden. Wer glaubt, dass die eigene Geschichte ein isoliertes Vorkommnis ist, neigt dazu, sich selbst für das Geschehene verantwortlich zu machen und nicht recht an die Möglichkeit einer Veränderung zu glauben.

Durch eine feministische Ästhetik wollen wir kreative Möglichkeiten schaffen, Tabus zu begegnen und sie zu entmystifizieren, dazu ermutigen, aus der „Isolation“ auszubrechen. Unser Ziel ist es, Brücken zu bauen, die „isolierte Subjekte“ verbinden, und damit das Erschaffen gemeinsamer Territorien zu ermöglichen. Wir ermutigen dazu, die „Koinzidenzen“ der unterschiedlichen Lebenserfahrungen zu sehen, sodass die nicht artikulierten Themen identifiziert und benannt werden können.

Durch eine feministische Ästhetik wollen wir kreative Möglichkeiten schaffen, Tabus zu begegnen und sie zu entmystifizieren, dazu ermutigen, aus der „Isolation“ auszubrechen.

Das Benennen des sozialen Phänomens, das mit der spezifischen Situation, die die Protagonistin erlebt hat, in Zusammenhang steht, kann sie von dem Glauben befreien, dass sie dies selbst verursacht hat. Wenn das privat Erlebte soziale Bedeutung erlangt, beinhaltet das, dass es eine Verbindung zwischen den Variablen an der Wurzel seiner Entstehung geben muss, unabhängig von den davon direkt betroffenen Individuen. Das bedeutet, dass beispielsweise Gewaltsituationen nicht durch das unangemessene Verhalten des Opfers verursacht werden, sondern mit strukturellen Problemen wie Machismus, Rassismus, Sexismus, Frauenfeindlichkeit etc. in Verbindung stehen.

Sich der Mechanismen bewusst zu werden, die die Unterdrückung am Leben halten, die uns umgibt, sowie der Vorurteile und Ideologien, die wir verinnerlicht haben und die sich gegen uns selbst wenden, ist ein befreiender, aber auch schmerzhafter Prozess. Uns selbst als Opfer zu begreifen ist Teil des Prozesses, der uns als Überlebende entdecken lässt. Uns dessen bewusst zu sein, wer wir sind und wo wir sind, hilft uns zu entdecken, wer wir sein wollen und wohin wir gehen wollen. Den Schmerz der Anerkennung und Bewusstmachung zu durchlaufen ist Teil der Reise, die uns ermöglicht, weiterzumachen und den Schmerz zu überwinden, ihn einzuordnen und ihm als kollektive Erfahrung in künstlerischen Produktionen eine neue Bedeutung zuzuschreiben.

Feminismus ist keine magische Formel, die uns von Widersprüchen befreit, daher setzen wir auf Kritik, Selbstkritik, kollektive Sorge und Dialog, um Ungerechtigkeiten entgegenzuwirken. In unserem Netzwerk ist eine antirassistische, antikapitalistische, kommunitaristische, ökologische, dekolonialistische, feministische Praxis Voraussetzung. Dennoch arbeiten wir immer weiter an der Gewährleistung von Gleichstellung: für schwarze und indigene Frauen, die einer Mehrheit weißer Frauen gegenüberstehen; für Trans-Frauen in einer hauptsächlich von cis-Personen dominierten Umgebung; noch komplexer wird es, wenn es auch um Sexualität, soziale Klasse, Beschäftigungsstatus und Territorium geht.

Wir kämpfen mit unseren Aktionen darum, die Reproduktion patriarchaler und kapitalistischer Übel zu überwinden, wie zum Beispiel bei der Verteilung der Mittel für Theaterproduktionen, sodass mehr Personen Zugang zu ästhetischem Werkzeug haben, um ihre eigenen Narrative zu schaffen. Wir schaffen Räume, damit diese Narrative geteilt und diskutiert werden können. Unsere Aktionen zielen darauf ab, die elitäre Idee zu überwinden, dass sowohl Zugang zu Kunst als auch Produktion von Kunst ein Privileg der Wenigen ist.


1 Deleuze und Guattari.

2 Gemeint ist die Interaktion des Publikums auf der Bühne, mit dem Ziel, Alternativen für die dargestellten Probleme zu finden.

Bárbara Santos, Dramaturgin, Regisseurin, Schauspielerin, Autorin und feministisch-antirassistische Aktivistin, ist außerdem künstlerische Leiterin von KURINGA kuringa.de, einem Theater-Space in Berlin. Sie ist Gründerin des Ma(g)dalena International Network – das aus Gruppen in Lateinamerika, Afrika und Europa besteht – und Entwicklerin der Methodologie des feministischen Theaters der Unterdrückten. Sie hat innovative Ansätze ästhetischer Forschung mit einem Fokus auf Gender als sozialer Konstruktion und Rasse als sozialer Organisation entwickelt, in Kombination mit sozialer Klasse aus feministischer Perspektive. Als Performerin untersucht sie die Umwandlung des performativen in einen politischen Körper. Als Schauspielerin wurde sie für den Brazilian Academy of Cinema National Award 2020 als beste Nebendarstellerin nominiert, für ihre Rolle in “The Invisible Life”, einem Film von Karim Aïnouz, der den Grand Prix “Un Certain Regard” beim Festival in Cannes 2019 gewonnen hat. Sie ist Autorin von “Roots and Wings” (erhältlich auf Portugiesisch, Spanisch, Italienisch und Englisch), "Aesthetic Paths" (erhältlich auf Portugiesisch) und “Feminist Theatre of the Oppressed” (erhältlich auf Portugiesisch und Spanisch). barbarasantos@kuringa.org / @barbara.kuringa.