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12.03.2025

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Zoë Svendsen

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Marie Konrad

Klimadramaturgie

Klimabewusstsein als künstlerische Geisteshaltung

Das Konzept der „Klimadramaturgie” wurde erstmals als Reaktion auf eine Reihe von Beratungsworkshops und Gesprächen im Donmar Warehouse in London (2022) entwickelt. Das Ethos diente als Grundprinzip für die Organisation einer Konferenz mit den Nationaltheatern von England, Schottland und Wales im September 2023, an der rund 300 Theaterregisseure aus ganz Großbritannien teilnahmen. https://theatregreenbook.com/making-theatre-in-a-time-of-climate-crisis-resources/.
Dieses Ethos wurde dann im Rahmen eines AHRC Knowledge Exchange Fellowship mit der im Osten Großbritanniens ansässigen Theatergruppe für neue Stücke HighTide durch Workshops mit Regisseur:innen, Bühnenautor:innen, Dramaturg:innen und Produzent:innen weiterentwickelt.

„Wir müssen eine neue Kunst und eine neue Psychologie finden, um die Apathie und die Verleugnung zu durchbrechen, die uns daran hindern, die Veränderungen vorzunehmen, die unvermeidlich sind, wenn unsere Welt überleben soll. Wir brauchen eine neue Kunst, die die Menschen sowohl für die ungeheure Tragweite dessen sensibilisiert, was vor uns liegt, als auch dafür, dass wir noch etwas dagegen tun können.”
—Ben Okri, „Artists Must Confront the Climate Crisis” i

Der Aufruf des Schriftstellers Ben Okri – „Wir müssen eine neue Kunst finden” – ist ein dringender Appell an Künstler:innen und Kulturschaffende, die Rolle zu erkennen, die wir in diesen seltsamen Zeiten spielen müssen, in denen wir von miteinander verknüpften Krisen erschüttert werden, seien sie lokal, national oder global, persönlich, beruflich oder politisch. Für mich ging es beim Theatermachen immer um die Frage, was es bedeutet, jetzt zu leben, und diese Frage hat mich vor 15 Jahren mit der Klimakrise konfrontiert.

Denn die Frage, wie das Theater auf die Klimakrise reagieren kann und sollte, konfrontiert Theatermacher:innen mit komplexen Fragen über unser Selbstverständnis als Künstler:innen und unsere Beziehung zur Welt um uns herum. Ist Ihre Antwort, wie die des britischen Intendanten Matthew Xia, künstlerischer Leiter der britischen Actor's Touring Company, dass es eine Selbstverständlichkeit ist, die eigenen Praktiken umweltfreundlicher zu gestalten: „Jedes Kunstwerk wird unter absolut ethischen Gesichtspunkten geschaffen, unter Berücksichtigung der Menschen, die sich damit beschäftigen, der Botschaften, die es enthält, der Art und Weise, wie wir es produzieren, und der Sorgfalt, die wir darauf verwenden”?ii Oder haben Sie das Gefühl, dass Umweltschutz nicht in den Aufgabenbereich des Theaters fällt? Oder dass er nicht relevant ist, weil es im Theater um Menschen und nicht um die Natur geht? Oder dass es andere, dringlichere Fragen der sozialen Gerechtigkeit gibt, mit denen sich das Theater auseinandersetzen muss? Oder dass wir uns als Künstler:innen nicht mit bestimmten gesellschaftlichen Forderungen aufhalten sollten? Oder dass es sich zwar lohnt, aber in Zeiten von Mittelkürzungen einfach zu schwierig ist? Ist es, offen gesagt, einfach ein Luxus, sich im aktuellen Kontext des Theatermachens überhaupt mit Umweltbelangen zu beschäftigen? Halten Sie es für unabdingbar, dass das Theater eine Rolle in den gesamtgesellschaftlichen Bemühungen um Dekarbonisierung und Reduzierung von Umweltschäden spielt (ohne dass es dabei aber wirklich um Kunst geht)? Oder sind Sie der Meinung, dass es, da die möglichen CO2-Einsparungen im Theater geringer sind als in anderen, stärker industriell geprägten Bereichen, eher um die Geschichten geht, die wir erzählen, oder um „Herz und Verstand” – darum, dass wir uns mit der Klimakrise auseinandersetzen, um unser Publikum zu begeistern? Die extreme Unvereinbarkeit dieser verschiedenen Ansätze bedeutet, dass es oft schwierig ist, genau zu wissen, worüber wir sprechen, wenn die Frage der „Nachhaltigkeit” im Arbeitsprozess auftaucht, was immer häufiger der Fall ist. Oftmals vertreten wir, je nach Sachlage, auch widersprüchliche Auffassungen.

Hier kommt die Klimadramaturgie ins Spiel. Anstatt eine moralisch überlegene Position einzunehmen oder eine allgemeingültige Liste von „Lösungen” anzubieten, ist die Klimadramaturgie ein Ethos, das die kulturelle Situation anerkennt, die zu diesen offenkundigen Widersprüchen führt – und zu kontextspezifischen Antworten auffordert, die die Herausforderungen anerkennen und zur Zusammenarbeit bei der Suche nach Gegenmaßnahmen einladen. Im Kern verankert die Klimadramaturgie eine Beziehung zur Klimakrise im Herzen der künstlerischen Praxis, indem sie dazu aufruft, die Kunst zu einem schärferen, präsenteren und präziseren Ausdruck der Zeit zu machen, in der wir leben. Die Klimadramaturgie lehnt die Trennung von Kunst und Gesellschaft des 19. Jahrhunderts ab, die in der Formulierung „Kunst um der Kunst willen” zum Ausdruck kommt, ebenso wie die Aufwertung des „Fortschritts” und der Akkumulation des 20. Jahrhunderts ab, die in dem Wort „Wachstum” verschlüsselt liegt. Beide Denkweisen sind im 21. Jahrhundert mit seinen neuen Herausforderungen und Chancen nicht mehr zeitgemäß.

„Die Klimakrise ist auch eine Krise der Kultur und damit der Vorstellungskraft. [...] Wir müssen einen Ausweg aus der individualisierenden Vorstellungswelt finden, in der wir gefangen sind.”
—Amitav Ghoshiii

Denn das Klima verlangt von uns allen, alles zu überdenken, was damit zusammenhängt, wer wir sind und welche Annahmen die Systeme, in denen wir leben, über das Leben anstellen. Die Klima- und Umweltkrise ist die jüngste verflochtene genozidale und ökozidale Gewalt, die aus über vierhundert Jahren extraktivem, transaktivem Kolonialkapitalismusiv hervorgegangen ist, eine Gewalt, die global ist und tiefe Wurzeln hat, und die nun wie ein Bumerang auf diejenigen zurückfällt, die zuvor vor ihr geschützt waren: kaukasische Europäer:innen in gemäßigten Klimazonen.v So zu agieren, als könne man unter allen Umständen liefern, als gäbe es keine Grenzen, ist eine Haltung, die durch die unausgesprochene Annahme ermöglicht wird, dass die lebende Welt und ihre Völker eine unbegrenzte, kostenlose Ressource sind und dass Produktivität und Profit die Ausbeutung von Menschen und Ökosystemen überall auf der Welt rechtfertigen. Die Klimakrise ist das Ergebnis dieser extraktiven, transaktiven Systeme, die eine „High Carbon Culture” hervorgebracht haben. Diese „High Carbon Culture” wird angetrieben von Geschwindigkeit, Kontrolle, Konsum, Aufwertung der materiellen Produktivität und endlosem Wachstum, baut auf der Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen auf und wird durch kulturelle Praktiken aufrechterhalten, die spalten, kategorisieren und isolieren. Die Ökonomin Kate Raworth beschreibt diese lineare Ökonomie als eine Ökonomie des „Nehmens”, „Herstellens”, „Verwendens” und „Verlierens”,vi was den Umgang mit der Erde als Konsumressource in der kohlenstoffintensiven Kultur treffend zusammenfasst und sich auch auf die Art und Weise anwenden lässt, wie Theaterkulturen mit Menschen umgehen, wenn sie von ihnen ein Maximum an Kreativität für die Aufrechterhaltung der Theatermaschinerie verlangen. Die Klimadramaturgie lädt zu einer anderen Herangehensweise ein.

Wie Ben Okri glauben viele, die sich mit den Klimarealitäten befassen, dass wir in der Endzeit leben, und das kann die Tür zu Klima-„Pessimismus” und dem Wunsch öffnen, den Ruf nach Veränderung zu ignorieren – typisch für Aussagen wie: „Wir sind sowieso alle am Arsch, also lasst uns feiern, während die Welt brennt”. 

Aber Okri spricht sich energisch gegen „Apathie und Verleugnung” aus und argumentiert wie folgt:

Dies ist das beste und natürlichste Zuhause, das wir je haben werden. Und wir müssen neue Menschen werden, um es zu verdienen. Wir müssen neue Künstler:innen werden, um es neu zu erträumen. Deshalb schlage ich eine existenzielle Kreativität vor, die im Dienst der unausweichlichen Wahrheit unserer Zeit steht, und einen visionären Existenzialismus, der im Dienst der Zukunft steht, die wir vom Rande unserer Umweltkatastrophe herbeiführen müssen. Nur aus der Tiefe der Wahrheit, mit der wir heute konfrontiert sind, können wir eine Zukunft gestalten." vii

Enden sind auch Anfänge, und ein klimabewusstes Theater könnte einen Kurs steuern zwischen dem, was Vanessa Machado de Oliveira Andreotti als „rücksichtslosen Fatalismus” und „verzweifelten Solutionismus”viii bezeichnet. Damit ist die schmerzhafte Zwickmühle benannt, die die Diskussion über die Klimakrise beherrscht: Entweder ist die globale Klimakatastrophe unausweichlich, oder die europäischen Kulturen müssen ein schwerwiegendes „Opfer” ihres gewohnten Lebensstils bringen. Die Klimadramaturgie bietet Methoden an, um aus dieser No-Win-Mentalität auszubrechen – ohne zu leugnen, dass dies die Realität ist, mit der viele Europäer:innen – Theatermacher:innen wie Publikum – zu leben glauben. In der Tat ist es ebenso wichtig, schnelle Lösungen oder einen schädlichen Universalismus zu vermeiden, wie zu erkennen, dass Fatalismus und Schwarzmalerei eine Art Nachsicht sind, die es entschuldigt, so zu leben und Kunst zu schaffen, als lebten wir in einer Zeit, die es bereits nicht mehr gibt. Wenn das Theater in der Lage ist, die Vielfalt der Geschichten zu bewahren und zum Ausdruck zu bringen, die eine Kultur braucht, um zu ergründen, wie wir noch nie dagewesene Veränderungen erleben, ausdrücken und auf sie reagieren, kann es eine entscheidende Rolle dabei spielen, es sowohl den Macher:innen als auch dem Publikum zu ermöglichen, die sich vollziehenden Transformationen zu gestalten – und zu bewältigen.

 

Was also ist Klimadramaturgie?

Im Kern ist Klimadramaturgie die Kunst und Praxis des Aufmerksamseins – oder, wie die Wissenschaftsphilosophin Isabelle Stengers sagt, „faire attention” („aufpassen”) – des „Machens” oder „Tuns” von Aufmerksamkeit als aktive Praxis, die die Punkte verbindet, um unsere Theaterpraxis wieder in die Lebenswelten um uns herum einzutauchen. Die Klimadramaturgie wurde als Ergänzung und kreativer Treibstoff für das britische Theatre Green Book entwickelt, ein außerordentlich effektives Kompendium an Know-how zur Reduzierung des Ressourcenverbrauchs und zur Ökologisierung von Theatern aus materieller Sicht, das zunehmend weltweit eingesetzt wird (die deutsche Übersetzung finden Sie hier). Als eine Art „Kapitel Null”, das der Auseinandersetzung des Theatre Green Book mit der Pragmatik vorausgeht, ist die Klimadramaturgie ein Ethos und ein „Werkzeugsatz” für kreative Künstler*innen, die sich auf die Psychologie der künstlerischen Denkweise konzentrieren.

         Faktisch erforscht die Klimadramaturgie unsere grundlegenden Herangehensweisen als Künstler:innen an unsere kreative Arbeit und empfiehlt eine Veränderung dieser Herangehensweisen, die Zusammenarbeit und Aufmerksamkeit über Wettbewerb und Individualismus stellt, ohne jedoch die Standards zu senken. Es geht nicht um ein Entweder-Oder, um Kunst oder Ethik, sondern um ein Sowohl-als-auch.ix  Den Status quo in Frage zu stellen scheint notwendig, weil ich – und viele um mich herum – nicht umhin konnten, das Missverhältnis zwischen unserer Besorgnis über die Klimakrise und unserer Fähigkeit, sie entweder durch Theater auszudrücken oder auf sie zu reagieren, zu erkennen. Die beiden Ausrufe „Keine Zeit!” und „Kein Geld!” scheinen alle Versuche, etwas zu ändern, immer wieder zu blockieren. Unabhängig davon, ob es sich um eine kleine Avantgarde-Performance handelt oder um die Arbeit am National Theatre, das in Sachen Umweltschutz führend ist, herrscht unter britischen Theatermacher*innen das Gefühl vor, dass die Einhaltung von Nachhaltigkeitsparametern die künstlerische Freiheit einschränken wird. Die Klimadramaturgie versucht, diese Gleichung umzukehren – sich von vereinfachenden Vorstellungen von „Nachhaltigkeit” als einem von der eigentlichen Praxis des Theatermachens getrennten „Zusatz” zu lösen – um zu zeigen, wie die Berücksichtigung des Kontextes der Klimakrise eine Triebkraft für eine transformative künstlerische Praxis sein kann.

         Denn genau das ist die Klimakrise – sie ist der Kontext unseres Lebens, jetzt und für immer, und nicht nur ein Thema für ein gelegentliches Theaterstück. Die Klimadramaturgie bezeichnet daher einen ganzheitlichen Ansatz, der Ökodramaturgien einschließt, aber auch für alle Arten von Arbeiten relevant ist, unabhängig davon, ob sie thematisch ökologisch orientiert sind oder nicht. Wie das Theatre Green Book schreibt auch die Klimadramaturgie nicht vor, wie explizit ein Stück sein Umweltengagement zum Ausdruck bringen muss. Vielmehr geht es bei der Klimadramaturgie darum, den Kontext der Klimakrise dramaturgisch in alle künstlerischen Entscheidungen einfließen zu lassen.

 

Wie also funktioniert Klimadramaturgie?

Ich werde fünf der wichtigsten Ansätze der Klimadramaturgie erörtern, die zusammengenommen zu einem Umdenken in allen Bereichen des Theatermachens beitragen: von der Verwendung von Materialien bis zur Form der Geschichte, von den Arbeitsmethoden bis zur Neubewertung kultureller Annahmen über die Kunst. Diese Ansätze sind sowohl Teil des Ethos der Klimadramaturgie als auch Hinweise auf praktische Maßnahmen, die von jedem Theater übernommen werden können, das den Ansatz an seinen spezifischen Kontext anpasst.

 

1. Sie sind nicht allein: Kein:e Einzelne:r kann das Problem „lösen” oder das System im Alleingang verändern. Die Klimadramaturgie beginnt daher mit einem ganzheitlichen Ansatz und erkennt die vielfältigen Möglichkeiten an, mit denen Künstler:innen, Produzent:innen und Management auf die Klimalage reagieren können. Indem die Klimadramaturgie zum Dialog und zur Transparenz einlädt, ermöglicht sie den Akteur:innen, die Herausforderungen der anderen zu erkennen – und auch zu feiern, wie viel bereits getan wird. Unabhängig davon, in welcher Rolle Sie arbeiten, wissen Sie, was andere Abteilungen/Bereiche des Theaters für die Umwelt tun? Wie hängt Ihre Arbeit mit deren Arbeit zusammen? Zu erkennen, dass man nicht allein ist und dass die Antworten vielfältig und nicht singulär sind, ist der erste Schritt. Klimaschutz ist ein kumulativer Prozess, der sich über verschiedene Bereiche des Theatermachens erstreckt. Darüber hinaus haben „grünere” Maßnahmen oft eine zirkuläre Funktionsweise – „Outputs” können in einem anderen Kontext zu „Inputs” werden. Im offensichtlichsten Fall kann der „Abfall” eines Produktionsdesigns zum kreativem Treibstoff für ein anderes Design werden. Ebenso kann die kreative Zusammenarbeit über einzelne Produktionen hinaus gefördert werden. Die lineare Produktionsweise, die Raworth als „Nehmen”, „Herstellen”, „Verwenden”, „Verlieren” beschreibt, kann in eine Reihe von Beziehungen umgewandelt werden, die eher wie ein sich gegenseitig befruchtendes Ökosystem funktionieren.

        

2. Timing. Die Konflikte, die zwischen Umweltbelangen und einer künstlerischen Idee entstehen, sind oft auf Zeitdruck zurückzuführen. Es gibt zwei wichtige Mittel, um dem Mythos entgegenzuwirken, dass die Eindämmung von Umweltschäden immer der Kunst schadet. Erstens ist die Sicherstellung der Konvergenz künstlerischer und ethischer Ambitionen oft weniger eine Frage der insgesamt benötigten Zeit als eine Frage des Timings. Durch frühzeitige Planung können Entscheidungsprozesse, wie es in der ersten Ausgabe des Theatre Green Book heißt, „ausgearbeitet” werden.x Es ist von entscheidender Bedeutung, die Erwartungen an den Umweltschutz mit den frühzeitigen Gesprächen in Einklang zu bringen, die notwendig sind, um die erforderlichen Vorlaufzeiten für die Recherche oder die „Rettung” gefundener Materialien für die Produktion des Werks zu gewährleisten. Etwas provokanter ausgedrückt, kann es eine Einladung sein, das Modell „erst entwerfen, dann umsetzen” zu überdenken. Wie wäre es, wenn Ideen von bereits vorhandenen Materialien inspiriert oder auf diese abgestimmt würden, so dass das, was bereits existiert, einen Hinweis auf das gibt, was sein könnte? Dies stellt vorgefasste Meinungen darüber, was Kunst ist und was Künstler tun, in Frage, ist aber ebenso gültig als künstlerische Praxis - und wird bereits von vielen Künstlern praktiziert, ob aus ökologischen Gründen oder nicht. Es lädt auch zu einem Gefühl der Einbettung in die Welt um uns herum und der Verbundenheit mit ihr ein – nicht länger eine extraktive „Ressourcenfiktion”, sondern ein Feiern der Fülle der tatsächlich bereits verfügbaren Ressourcen. Wenn die Erwartungen in Bezug auf die Berücksichtigung von Umweltparametern von Anfang an in den Gesprächen lebendig gehalten werden, können sie produktiv werden und zu einer größeren Präzision bei der Entwicklung von Ideen führen, anstatt nur einzuschränken. Entscheidet man jedoch, dass ein Entwurf zu umweltbelastend ist, nachdem er bereits vollständig konzipiert wurde, stehen die Macher*innen vor der deprimierenden und aussichtslosen Wahl, entweder die Umwelt zu schädigen oder ihre Vision nicht zu verwirklichen.

 

3. Die Zukunft proben. Wenn der CO2-Fußabdruck einer einzelnen Theaterproduktion im Vergleich zu den Auswirkungen des gesamten Energieverbrauchs des Theatergebäudes minimal ist und im Vergleich zu den Auswirkungen des Industriesektors verblasst, welchen Wert hat es dann, daran zu arbeiten, den Schaden so gering wie möglich zu halten? Der Anspruch der Klimadramaturgie besteht darin, dass es nicht darum geht, ein Zahlenspiel zu gewinnen, sondern in der Gegenwart die Zukunft einer nicht-extraktiven, nicht-ausbeuterischen Wirtschaft zu proben und zu inszenieren, in der es üblich ist, darauf zu achten, woher die Materialien kommen und welche Auswirkungen das eigene Handeln über den unmittelbaren eigenen Horizont hinaus hat. Wie der australische Autor Richard Flanagan kürzlich bei der Rückgabe des Preisgeldes für sein neues Buch Question 7 sagte:

 „Wir leben in einer Zeit, die der Illusion unterliegt, dass der einzige Weg zur Wahrheit über Metriken, über Zahlen führt, aber das ist nicht der Fall. Wir sind die Geschichten, die wir über uns selbst erzählen, wir leben in ihnen und wir werden durch sie erschaffen.”xi

         Wenn wir zulassen, dass die Beschäftigung mit dem Klima den künstlerischen Prozess neu erfindet, geht es also nicht darum, wie viel wir „einsparen”, sondern welche Geschichte wir darüber erzählen wollen, wie Kunst in der Welt existiert. Die Theaterautorin und Permakulturspezialistin Mojisola Adebayo (Queen Mary University of London) formuliert präzise, was auf dem Spiel steht, indem sie zu Beginn ihres Stücks Family Tree (2023), das sich mit dem generationenübergreifenden Trauma des Umweltrassismus auseinandersetzt, die Macher*innen auffordert, sorgsam mit Ressourcen umzugehen, da sonst „die Inszenierung dem Inhalt widerspricht”.xii

 

4. Den Perfektionismus aufgeben In der Klimadramaturgie wird die Fähigkeit des Theaters verehrt, eine Aufführung auf die Beine zu stellen, ganz gleich, welche Hindernisse sich ihm in den Weg stellen – dieselbe Mentalität, die auch auf die Herausforderungen der Theatergestaltung im Kontext der Klimakrise angewendet werden kann. Allerdings muss man sich dabei von der Illusion verabschieden, dass es eine „richtige” Lösung gibt, die das Problem aus der Welt schaffen kann. Vielmehr geht es darum, die Notwendigkeit eines Gesprächs über Umweltparameter zu nutzen, um sich des Zwecks und der Ziele der Kunst bewusst zu bleiben. Darüber hinaus ist ständige Wachsamkeit erforderlich, um sicherzustellen, dass die Praktiken mit den Grundsätzen im Einklang bleiben, denn jeder Versuch eines Theaters, seine Praxis zu verändern, findet in einer – politischen und sozialen – Kultur statt, die die Dringlichkeit und das Ausmaß der erforderlichen Veränderungen weiterhin leugnet (IPCC-Bericht 2022). Zu den Herausforderungen für das Theater gehören „nicht zu wissen, wie man mit der Umsetzung von Veränderungen beginnen soll”; „ein Mangel an einheitlichem Denken im gesamten Sektor” und „widersprüchliche Informationen”; die Notwendigkeit „einer klaren Werteerklärung”, die „öffentliche Anerkennung von Werten”; „das Gefühl, allein zu sein”, „Zeitdruck” und „Mangel an Finanzierung oder Budget”.xiii

Es wurde deutlich, wie wichtig es ist, diese und alle anderen „Herausforderungen”, sowohl kultureller als auch praktischer Art, denen sich der Sektor gegenübersieht, in jeder Diskussion über Umweltauswirkungen zu erkennen und sie dann mit „Gegenmitteln” zu verbinden, die Möglichkeiten skizzieren, wie diesen Herausforderungen begegnet und auf sie reagiert werden kann.xiv Aufgrund der Vielfalt dieser Herausforderungen kann es keine Checkliste mit allgemeingültigen „Lösungen” geben. Stattdessen lädt die Klimadramaturgie zu gemeinsamen Gesprächen darüber ein, welche Herausforderungen sich in der jeweiligen spezifischen Situation stellen – und wie diesen kreativ und umsichtig begegnet werden kann. Das mag nicht zu einem „perfekten” Umweltergebnis führen, aber es bedeutet, dass künstlerische und ökologische Werte immer miteinander verflochten sind und sich durch die Auseinandersetzung mit der zentralen Frage nach dem „Warum” gegenseitig befruchten. Warum brauchen wir gerade dieses Material? Ist dies die klarste und schönste Art, diese Geschichte zu erzählen? Wie spricht diese spezielle Geschichte im Kontext der Klimakrise das Publikum an? Welche Annahmen werden in ihr über unsere Welt getroffen? Und steht die Art und Weise, wie sie umgesetzt wird, im Zusammenhang mit der Geschichte, die sie zu erzählen versucht?

 

5. Die Klimadramaturgie erkennt an, dass die Form eines Werks immer eine Politik hat und dass das Soziale nicht vom Ästhetischen getrennt werden kann. Die Betrachtung der Art und Weise, wie Geschichten erzählt werden, ermöglicht es uns, Annahmen aufzudecken und verschiedene Arten des Handelns, des Seins und der Beziehung zueinander und zur lebendigen Welt zu modellieren. In der Klimadramaturgie gibt es keine Regeln, sondern nur einen Aufruf zur Bewusstwerdung – was sagt das Werk eigentlich aus? Das Theater – als Spiegelbild moderner Industrienormen – hat eine lange Geschichte darin, die Natur auf eine dekorative Kulisse oder symbolische Metapher zu reduzieren.xv Schließt das Werk die lebendige Welt aus und geht nur vom menschlichen Handeln aus? Wenn ja, entspricht es einfach dieser Konvention ­– oder kritisiert es sie? Wie könnte die lebendige Welt dargestellt werden? Steht ein einzelner Held im Mittelpunkt der Handlung? Dreht sich das Stück um seine (oder ihre, aber in der Regel seine) Wünsche und seinen Erfolg oder Misserfolg bei der Erfüllung dieser Wünsche? Wirkt der Held „in” der Welt (in Verbindung mit anderen Akteur:*innen oder Wesen) oder „auf” sie (wobei seine Fähigkeit, auf andere einzuwirken, im Vordergrund steht)? Ich sehe diese Beschäftigung mit dem Helden als Individuum, das isoliert und mit inneren Wünschen beschäftigt ist, als etwas, das zu Dramaturgien des „Gewinnens und Verlierens” führt – eine Manifestation unserer kulturellen Einbettung in den Kapitalismus.xvi Normalisiert die Dramaturgie des Werks einen solchen Individualismus? Huldigt sie dem Exzeptionalismus? Oder untersucht das Werk die Wechselbeziehungen zwischen mehreren Charakteren/Fähigkeiten und Fertigkeiten? Sind die Zeitskalen einfach und linear – oder vielfältig und gebrochen? Wird suggeriert, dass wirtschaftlicher „Fortschritt” unvermeidlich – und rational – ist? Oder werden bei der Arbeit die Kosten dieses Fortschritts für andere berücksichtigt? Wird angenommen, dass das Leben so weitergehen wird wie bisher – oder wird diese Annahme in Frage gestellt? (In diesem Sinne birgt Tschechows schonungslose Vision einer sterbenden russischen Aristokratie Vorboten des Klimakollaps.) Für die Klimadramaturgie kommt es darauf an, solche und viele ähnliche Fragen zu stellen und ihre Bedeutung für die Aussage des Werks zu erforschen – und nicht darauf, dass es eine „richtige” Antwort gibt. Die Klimadramaturgie sollte zu einer Divergenz und Vervielfältigung von Formen, Stilen und Erzählweisen führen, nicht zu einer Konvergenz auf einen einzigen Erzähltypus.xvii

 

Letztendlich lädt die Klimadramaturgie zu einem ganzheitlichen Ansatz ein, der von Künstler:innen geleitet wird und ständig nach Lösungen zur Überwindung von Hindernissen sucht, während er gleichzeitig die Widersprüche anerkennt, die diese Arbeit zu einer besonderen Herausforderung machen. Die Klimadramaturgie orientiert sich an der künstlerischen Praxis und nicht an starren Regeln und kann sich sowohl auf die Form oder eine Geschichte als auch auf die verwendeten Materialien beziehen. Sie soll Theaterschaffende in die Lage versetzen, die Werte des Klimaschutzes in alle Aspekte ihrer Arbeit einfließen zu lassen und so dem gesamten kreativen und technischen Team einer Produktion oder Spielzeit ermöglichen, die Richtlinien des Theatre Green Book zur Reduzierung von Umweltschäden effektiv zu nutzen. Die britische Theatergruppe für neue Stücke HighTide nutzt die Klimadramaturgie, um ihr Ziel zu erreichen, bis 2030 CO2-neutral zu werden. Zu diesem Zweck hat HighTide die „10 Schritte” der Klimadramaturgie entwickelt, die Sie hier finden. Eine neue Generation von Theatermacher*innen im britischen Mainstream-Theater beginnt, mit diesen Grundsätzen zu arbeiten – und bringt den Mainstream näher an die ökologische Vorstellung heran, die in den avantgardistischen und in experimentellen Bereichen der Aufführung schon lange existiert.

Tatsächlich geht es in gewisser Weise darum, dass nichts davon „neu” ist – in der Tat könnte die Idee des „Neuen” ein „Überzeugungsargument” sein, von dem sich die Kultur vielleicht verabschieden muss: „neu”, „zuerst”, „besser”, „am besten” – das sind Wege, eine klimabewusste Praxis exklusiv, moralisch überlegen oder für die meisten Macher:innen unerreichbar erscheinen zu lassen. Aber es geht auch nicht um „weniger”; es muss nicht um „Opfer” oder „Rettung” oder „Überleben” gehen. Indem wir uns der Welt, in der wir uns befinden, mit all ihren Schmerzen, Widersprüchen und Extremen widmen, können wir als Künstler*innen zu dem Grund zurückfinden, warum wir überhaupt Theater machen, selbst wenn es schwierig ist. Die Klimadramaturgie kann keine allgemeingültige Antwort auf die Frage geben, wie man im Kontext der Klimakrise Kunst machen kann, aber sie kann uns helfen, diese Frage zu stellen.

 

Klimadramaturgie:

  • befasst sich mit Zusammenhängen jenseits des unmittelbar Sichtbaren und Kurzfristigen
  • - ist ganzheitlich - bringt eine Vielzahl von Aspekten des Theatermachens zusammen: künstlerische und administrative, freie und angestellte Mitarbeiter:innen, künstlerische und technische Mitarbeiter:innen, soziale/bürgerliche und künstlerische Ziele
  • legt den Schwerpunkt auf die Zusammenarbeit statt auf Wettbewerb: ein Ökosystem miteinander verbundener Handlungen statt „der Gewinner bekommt alles”
  • iterativ – keine „einheitliche” oder „perfekte” Lösung/gibt nicht auf, findet immer wieder Gegenmittel und neue Behelfslösungen
  • versteht die Sorge um Menschen und den Planeten als miteinander verflochten und verbunden – mit wechselseitigen Auswirkungen
  • betrachtet künstlerisches „Können” als etwas, das mehr mit Sorgfalt, Aufmerksamkeit, Detailgenauigkeit, Präzision, Zuhören und Wahrnehmen zu tun hat als mit Kontrolle und Ego.

 


i Ben Okri, „Artists Must Confront the Climate Crisis”, The Guardian, 12. November 2021. https://www.theguardian.com/commentisfree/2021/nov/12/artists-climate-crisis-write-creativity-imagination
ii NT Theatre Green Book, „Making Theatre in a Time of Climate Crisis: The Challenges”. Tagungsband der Konferenz „Making Theatre in a Time of Climate Crisis”, National Theatre, 29. September 2023. https://theatregreenbook.com/wp-content/uploads/2023/12/5.-NT-Making-Theatre-in-a-Time-of-Climate-Crisis-The-Challenges.pdf
iii Amitav Ghosh, The Great Derangement: Climate Change and the Unthinkable (2017), S. 71.
iv Vgl. Amitav Ghosh, The Nutmeg’s Curse: Parables for a Planet in Crisis (2021); Malcolm Ferdinand, A Decolonial Ecology: Thinking From The Caribbean World (2019), S. 1–35; Rob Nixon, Slow Violence and the Environmentalism of the Poor (2011); Max Liboiron, Pollution is Colonialism (2021).
v Aimée Césaire verwendet in Discourse on Colonialism (1951) den Begriff „boomerang” („Bumerang”), um aufzuzeigen, wie die europäische Kolonialgewalt auf die Europäer:innen selbst zurückfällt.
vi Kate Raworth, Doughnut Economics: Seven Ways to Think like a 21st–Century Economist (2017).
vii Ben Okri, ‘Artists Must Confront the Climate Crisis’, The Guardian, 12. November 2021. https://www.theguardian.com/commentisfree/2021/nov/12/artists-climate-crisis-write-creativity-imagination
viii Vanessa Machado de Oliveira, Hospicing Modernity: Facing Humanity’s Wrongs and the Implications for Social Activism (2021).
ix Siehe Svendsen, „Climate Contexts: Some Principles for Theatre in an Era of Ecological Chaos” (2021), https://medium.com/@zoesvendsen/climate-contexts-some-principles-for-theatre-in-an-era-of-ecological-chaos-3269d0e7530a
x Die zweite Ausgabe, die Anfang dieses Jahres veröffentlicht wurde, behält die gleiche Hierarchie des Fragens/Vorstellens bei – eine äußerst nützliche Kaskade von Fragen nach Wert, Notwendigkeit und Möglichkeit, betitelt sie aber jetzt mit „think differently” („anders denken”); <t0/>Theatre Green Book v2 (2024), S. 2. https://theatregreenbook.com/
xi Zitiert in Alex Clark, „I fly, I drive. We’re all complicit: Richard Flanagan on vanishing species and refusing the Baillie Gifford prize money”, The Guardian, 20. November 2024. https://www.theguardian.com/books/2024/nov/20/richard-flanagan-baillie-gifford-refusing-prize-money-death-railway
xii Adebayo, Mojisola. Family Tree (London: Methuen Drama, Bloomsbury Publishing, 2023), S. 2.
xiii Roberta Mock, Transitioning to Sustainable Production across the UK Theatre Sector (Mai 2023).
xiv Die Methode, neben den „Herausforderungen” auch „Gegenmittel” zu identifizieren, geht auf das Open-Source-Dokument „White Supremacy Culture in Organizations” („Kultur der weißen Vorherrschaft in Organisationen”) zurück, einen antirassistischen Leitfaden. Darin wird die Macht demonstriert, die darin liegt, Wege nach vorn aufzuzeigen und Hindernisse und schädliche Praktiken zu identifizieren. Sie wurde von der Theaterregisseurin und Antirassismus-Aktivistin Nicole Brewer vorgestellt. https://coco-net.org/wp-content/uploads/2019/11/Coco-WhiteSupCulture-ENG4.pdf
xv Siehe den bahnbrechenden Artikel von Una Chaudhuri, „There Must Be a Lot of Fish in that Lake: Toward an Ecological Theater”, Theater 25.1 (1994), S. 23–31
xvi Siehe Svendsen, Theatre & Dramaturgy (2023)
xvii Es gibt eine Reihe von Praktiker:innen und Theoretiker:innen, die Fragen zur Durchführung klimadramaturgischer künstlerischer Prozesse zusammengestellt haben, die nützliche Leitlinien bieten. Dazu gehören Teresa J. Mays „Some Green Questions to Ask a Play” (2007), Katalin Trencsényis „Leave No Trace Dramaturgy” (2022), and Una Chaudhuris (mit Mitgliedern von CLIMATE LENS) „Dis-Anthropocentric Performance: The CLIMATE LENS PLAYBOOK” (2023).

Zoë Svendsen ist eine britische Dramaturgin und Theaterregisseurin, die partizipatorische Theateraufführungen und Installationen zur Erforschung der ökologischen Krise und des Kapitalismus macht, u.a. Love Letters to a Liveable Future (Cambridge Junction), Ness (Estuary Festival), Factory of the Future (Oslo Architecture Triennale); WE KNOW NOT WHAT WE MAY BE (Barbican), World Factory (New Wolsey/Young Vic/UK tour); 3rd Ring Out, (UK tour). Zoë arbeitet auch als Dramaturgin an der Neuinterpretation klassischer Texte mit Londoner Theatern wie dem Sam Wanamaker Playhouse, The Globe, dem National Theatre, dem Young Vic und der Royal Shakespeare Company. Vor kurzem hat sie ein Forschungsprojekt mit dem Donmar Warehouse abgeschlossen, bei dem das Konzept der „Klimadramaturgie“ entwickelt wurde. Ausgehend von dieser Arbeit wurde sie Associate Artist bei der Hightide New Writing Theatre Company, um diese Praxis in Arbeitspraxis von Hightide einzubetten. Zoë ist außerdem Associate Artist bei Cambridge Junction und hält Vorlesungen über Dramaturgie an der Universität von Cambridge.