Ozi Ozar
Monika Huber
Es gibt bestimmte Momente im Leben, in denen Geschichte und Zeit an einem Wendepunkt innehalten, der die Zeitachse eines Menschen in ein Vorher und ein Nachher teilt. Diese Wendepunkte können sich bezüglich ihres Kontexts und ihrer Entstehung unterscheiden, in jedem Fall sind sie unhintergehbare Punkte im Leben. Es kann der Tag sein, an dem man heiratet, der Tag, an dem man einen geliebten Menschen beerdigt, der letzte Geburtstag der Eltern oder der Tag, an dem man endlich ein Coldplay-Konzert besucht hat und feststellt, dass die Band nervt; alle diese Ereignisse hinterlassen ihre Spuren, rückwärtsgewandt und in die Zukunft gerichtet. Manche dieser Wendepunkte sind so polarisierend, dass man auf ihnen verweilen und nicht mehr weitergehen möchte, denn mit dem Kontinuum der Zeit kommen Schmerz und Leid. In solchen Situationen verbindet sich das Leiden mit einem Trauma; dieses tritt also nicht in unmittelbarer Nähe eines Ereignisses auf oder genauer, es findet nicht in einem einzelnen Augenblick statt; sondern das Trauma wird von einem zeitlichen Rahmen geprägt.
In solchen Situationen verbindet sich das Leiden mit einem Trauma; dieses tritt also nicht in unmittelbarer Nähe eines Ereignisses auf oder genauer, es findet nicht in einem einzelnen Augenblick statt; sondern das Trauma wird von einem zeitlichen Rahmen geprägt.
Während ich diese Zeilen schreibe, ist es fünf Monate her, dass die Menschen im Iran eine Revolution begonnen haben. Diese greift einen Slogan aus der kurdischen Freiheitsbewegung auf: Jin* Jîyan Azadî (Frau, Leben, Freiheit). Für mich als Iraner gab es kaum einen Tag, an dem ich anderen Menschen nicht die Maßstäbe der Nation erklärte. Maßstäbe, die wie ein Trauma-Tunnel erscheinen - ohne Licht am Ende. Dass ich das Grundlegende erklären musste, erinnerte mich jeden Tag daran, wie sehr mein Geist und meine Seele zeitlich und räumlich von dem Land getrennt sind, in dem mein Körper jeden Tag aufwacht. Ein viraler Tweet antwortete einmal auf die Frage "Wie geht es dir?" mit "Ich lebe seit fünf Monaten nicht mehr in meinem eigenen Körper". Dieses Gefühl ist vielen Iranern bekannt und jedem, der im Exil lebt, sehr vertraut.
Die Erfahrung einer solchen Parallelwelt beflügelt zwar, bringt Freiheit und Handlungsspielräume mit sich, ermöglicht es vorwärtszukommen, kritisch und kreativ zu denken, eine Bewegung zu gestalten und andere zu unterstützen, aber gleichzeitig streut diese Erfahrung auch Salz in die offene Wunde. Die Wunde des Zusammenlebens, des Verbundenseins und des Miteinanders, wenn man erkennt, wie selektiv Aktivismus sein kann. Aktivismus kann die ganze Welt vereinen und Menschen mit unterschiedlichen politischen Überzeugungen und Hintergründen zusammenbringen, um mit temporären Angeboten und Möglichkeiten den Schmerz jener wenigstens etwas zu lindern, die vor den russischen Angriffen in der Ukraine fliehen. Doch dieselben Leute denken nicht daran, ein paar Euro ihrer materiellen oder immateriellen Ressourcen mit bedürftigen Menschen zu teilen, die nicht aus der Ukraine geflohen, sondern people of colour sind, die keinen Einfluss auf die geopolitische Situation hatten, in die sie hineingeboren wurden, und die aufgrund der Umstände dort gezwungen waren zu flüchten. Humanitäre Hilfe und Wege zur Rettung dieser Menschen gelten als Verbrechen, und die Suche nach ihnen macht die Zufluchtsuchenden zu Kriminellen und nicht zu Opfern.
Diese Parallelität zu erleben und die Möglichkeit zu haben über diese Probleme und Ereignisse zu sprechen, gleichzeitig jedoch zu leiden und geografisch ab-getrennt zu sein, erinnert an den Schmerz, den das Gehirn eines Menschen mit Phantomsyndrom empfindet und diesen Schmerz in einem bereits amputierten Körperteil zu lokalisieren versucht. Das Gehirn erinnert sich daran, dass der Schmerz vorhanden ist, aber es gibt keine physischen Merkmale, mit denen man ihn in Verbindung bringen könnte, da das schmerzende Körperteil einfach nicht mehr existiert bzw. nicht mehr mit dem Körper verbunden ist.
Das Gehirn erinnert sich daran, dass der Schmerz vorhanden ist, aber es gibt keine physischen Merkmale, mit denen man ihn in Verbindung bringen könnte, da das schmerzende Körperteil einfach nicht mehr existiert bzw. nicht mehr mit dem Körper verbunden ist.
Ich habe nicht Medizin studiert und deshalb den Nachteil, dass ich zu diesem Beispiel keine tiefgründigere oder poetische Aussage machen kann. Auch weiß ich nicht, wie man mit solchen Fällen medizinisch umgeht. Als Mensch, der versucht, menschlich zu sein, kann ich mir jedoch vorstellen, dass die Erkundung abgespaltener Merkmale dem Einzelnen helfen kann, nach Lösungen oder Wegen zu suchen, um dem anhaltenden Trauma etwas entgegenzusetzen. In diesem Fall und auch auf gesellschaftlicher Ebene umfasst das Formen von Aktivismus – einzeln oder als Gruppe.
Lassen Sie mich das mit einem Zitat des heute verhassten, aber einflussreichen iranischen Moderators und politischen Satirikers verdeutlichen, der seit über zwei Jahrzehnten in den Vereinigten Staaten lebt - stellen wir uns einen iranischen John Stewart vor. Kambiz Hosseini begann einmal eine Folge seiner beliebten Sendung "Politic پولیتیک" mit persönlichen Anekdoten, doch in dieser Folge gab es keine Satire. Sie wurde zum Zeitpunkt des persischen Neujahrs ausgestrahlt und vermittelte daher eine festliche Stimmung. Doch es war ein Neujahr im Exil. Wie viele andere Kulturen feiern auch die Iraner:innen ihr Neujahrsfest zum Frühlingsanfang. Das heißt, wenn Sie im Iran leben, ist Silvester nicht Ende Dezember, sondern am 20. März. An diesem Tag räumen die Menschen normalerweise ihr ganzes Haus auf, entsorgen ihren alten Müll oder spenden Kleidung, die sie nicht mehr brauchen, und warten dann zusammen mit ihren Lieben auf den Countdown. Sie rufen die Menschen an, die nicht persönlich kommen können, um ihnen ein frohes neues Jahr zu wünschen. Auch wenn man nicht dort lebt, wo Nowruz gefeiert wird, aber mit dieser Kultur aufgewachsen ist, ist man an 20. März sehr aufgeregt. In der Welt um einen herum findet man aber keine Anzeichen von Aufregung. Im Gegenteil, alle sind mit ihrem normalen Leben beschäftigt, was frustrierend ist. In seiner Sendung nutzt Kambiz diesen Anlass, um seinen inneren Kampf und seinen Schmerz über die aufgezwungene Situation mitzuteilen, die nicht nur Kambiz, sondern alle Iraner im Exil empfinden. Er erzählt, dass er – noch im Iran lebend – immer gedacht hat, dass viele seiner Probleme und Kämpfe mit der Migration enden würden, dass viele Dinge mit der Geografie eines Ortes zusammenhängen und dass man sie einfach vergessen und frei sein kann, wenn man umsiedelt oder sich von dort entfernt. Der lange einleitende Monolog endet mit: "Ich habe mich geirrt, alles kam mit mir in die Migration. Ich habe einen Teil von mir zu Hause gelassen, aber all diese brennenden Probleme kamen mit mir."
Er erzählt, dass er – noch im Iran lebend – immer gedacht hat, dass viele seiner Probleme und Kämpfe mit der Migration enden würden, dass viele Dinge mit der Geografie eines Ortes zusammenhängen und dass man sie einfach vergessen und frei sein kann, wenn man umsiedelt oder sich von dort entfernt. Der lange einleitende Monolog endet mit: "Ich habe mich geirrt, alles kam mit mir in die Migration. Ich habe einen Teil von mir zu Hause gelassen, aber all diese brennenden Probleme kamen mit mir."
Ich erinnere mich deutlich daran, wie ich diese Folge sah und etwas fühlte, für das ich damals keine Worte hatte. Ich saß in meinem Zimmer in Teheran, wo ich geboren und aufgewachsen war, und fühlte mich "homesick", als wäre ich im Exil und doch nicht im Exil. Ich empfand eindeutig Empathie. Nun, nachdem ich ausgewandert bin und mich häufiger mit dieser Art von Gefühlen auseinandergesetzt habe, verwende ich das Wort "homesick" so gut wie gar nicht mehr, denn auf dem Papier bin ich offiziell ausgewandert. Gleichwohl bin ich auf meine eigene Art und Weise weggelaufen. Ich bin geflohen, weil ich keinen bzw. keinen sicheren Raum hatte, in dem ich existieren und arbeiten konnte, denn die Zensur hatte uns alle fest im Griff: auf der Bühne, hinter den Kulissen, vor oder hinter der Kamera oder am Computer, unter Freunden oder in der Familie.
Ich bin geflohen, weil ich keinen bzw. keinen sicheren Raum hatte, in dem ich existieren und arbeiten konnte, denn die Zensur hatte uns alle fest im Griff: auf der Bühne, hinter den Kulissen, vor oder hinter der Kamera oder am Computer, unter Freunden oder in der Familie.
Der deutsche Begriff Heimweh ist eine treffendere Definition für dieses Gefühl. Die Kombination aus den zwei Wörtern Schmerz und Heimat, ist eine genauere Übersetzung, denn der Schmerz bezieht sich nicht nur auf das Vermissen der Heimat als Ort, sondern auch als Konzept, als utopischer Ort, der für marginalisierte Gemeinschaften nichts anderes bedeutet als ein nie endender Schmerz. Es gibt nur die Idee davon, irgendwo hinzugehören, die man immer wieder neu formen und bearbeiten kann, die aber sich aber nie realisiert.
Ein persisches Sprichwort sagt: „Der Mensch lebt in der Hoffnung." Wissenschaftlich gesehen ist das falsch, denn der Mensch braucht zum Überleben die richtige Kombination aus Wasserstoff und Sauerstoff. Hoffnung ist eine immaterielle Idee, die uns den Antrieb gibt, es immer weiter zu versuchen. Der ganze Prozess des Versuchens besteht darin, einen Raum zu schaffen, der uns mit der richtigen Kombination von Sauerstoff und Wasserstoff versorgt und versorgen kann. Die aktuelle Revolution im Iran sowie frühere soziale Bewegungen im vergangenen Jahrhundert bezogen sich zu einem großen Teil direkt auf die Umwelt und die Gesundheit des Einzelnen. So gab es beispielsweise eine Gruppe von Umweltaktivist:innen, die vor über fünf Jahren zu Unrecht im Iran verhaftet wurden und von denen einer nach zwei Wochen Haft unter mysteriösen Umständen starb – ermordet wurde. Viele andere sind immer noch im Gefängnis, obwohl das iranische Ministerium für Nachrichtenwesen ihre Unschuld bewiesen hat. Kürzlich hat eine von ihnen ihr Schweigen gebrochen und einen offenen Brief aus dem Gefängnis veröffentlicht, in dem sie beschreibt, welche Art von physischer und psychischer Folter sie und andere durchgemacht haben. Hier ist ein Zitat aus dem jüngsten Brief von Sepideh Kashani: "Ich schwöre auf den Koran voller Weisheit [den Anfang der Sure Yas]. Zu Beginn jedes Verhörs liest der Vernehmungsbeamte die Yas-Sure laut vor. Danach verliest eine Person, die behauptet, ein Mullah zu sein, das Todesurteil über meinen Liebsten Houman Jokar. Ich kann ihn nicht sehen, da ich mit verbundenen Augen an der Wand sitze. Ist das das Todesurteil von Houman? Hier? In diesem Raum? Für wen? Meinen Houman? Den von seiner Mutter geborenen? Derselbe Houman, der jedes Stückchen dieses Landes in sich aufnimmt und anbetet?" So beschreibt Sepidehs die psychische Folter, der sie ausgesetzt war. Später erklärt sie, dass dies eine häufig angewandte Methode war, um sie zu brechen und sie zu zwingen, sich mit dem Geständnis eines erfundenen Szenarios selbst zu belasten.
Beim Lesen des Briefes kann man sich eines starken Schmerzes im amputierten Körperteil nicht erwehren, ebenso wenig wie des "Heimwehs". Dem Schmerz darüber, wo wir als Menschen stehen, wie machtlos wir sind, obwohl wir miteinander verbunden sind, und wie wir solche brutalen Situationen auf demselben Planeten zulassen können, auf dem wir alle täglich aufwachen.
Dem Schmerz darüber, wo wir als Menschen stehen, wie machtlos wir sind, obwohl wir miteinander verbunden sind, und wie wir solche brutalen Situationen auf demselben Planeten zulassen können, auf dem wir alle täglich aufwachen.
Doch solange wir alle Zugang zu der richtigen Kombination aus Sauerstoff und Wasserstoff haben, können wir dieses Echosystem fortsetzen. In gewisser Weise ist es auch unsere Pflicht, es zu erhalten und diejenigen zu unterstützen, die ihre Freiheit dafür geopfert haben. Vergessen wir nicht, dass die Umwelt oder der Planet nicht in Gefahr sind: WIR SIND ES! Ein Planet, der den Urknall und die Eiszeit überlebt hat, kann sein System korrigieren, WIR KÖNNEN ES NICHT. Also müssen wir entweder den Kreislauf durchbrechen, oder wir blicken direkt in unseren eigenen Untergang. Es gibt keinen wesentlichen Unterschied zwischen der Islamischen Republik und der globalen Erwärmung. Um ehrlich zu sein, sind die Islamische Republik und andere terroristische Banden der Hauptgrund für die globale Erwärmung.
Es gibt keinen wesentlichen Unterschied zwischen der Islamischen Republik und der globalen Erwärmung. Um ehrlich zu sein, sind die Islamische Republik und andere terroristische Banden der Hauptgrund für die globale Erwärmung.
Banden, die alles opfern, um ihre finanziellen Ressourcen zu mehren und die Welt zu beherrschen, indem sie ihr Gift verbreiten. Angesichts dieser Lage hat man zwei Möglichkeiten: entweder man ignoriert die ganze Situation und hält sich raus, oder man bezieht Stellung, engagiert sich in der Praxis und organisiert Gegenaktionen. Ein Dazwischen gibt es nicht, da selektiver Aktivismus den Prozess nur verlangsamt, notwendige radikale Veränderungen behindert und den kriminellen Banden mehr Zeit verschafft, sich neu zu organisieren und diejenigen zum Schweigen zu bringen, die den Wandel vorantreiben. In solchen Situationen ist es nicht unsere Gunst, sondern unsere Verantwortung, unsere Privilegien und Ressourcen zu erkennen, sie zu prüfen und darüber nachzudenken, wie wir sie mit anderen teilen können, die sich ebenfalls für solche Anliegen engagieren.
In solchen Situationen ist es nicht unsere Gunst, sondern unsere Verantwortung, unsere Privilegien und Ressourcen zu erkennen, sie zu prüfen und darüber nachzudenken, wie wir sie mit anderen teilen können, die sich ebenfalls für solche Anliegen engagieren.
Sowohl im materiellen als auch im immateriellen Sinne. Ich schließe diesen Essay mit einigen Vorschlägen für die Kulturszene, wie sie – durch ihre Verbindungen – der Revolution im Iran und anderen unter Diktaturen lebenden Nationen im Kampf gegen die Terrorregime helfen kann.
Überlegen Sie in Ihrer Institution, welches Äquivalent für Sauerstoff und Wasserstoff Sie zur Verfügung haben, ob Sie die richtige Kombination herstellen und Menschen in Not damit versorgen können. Nehmen wir ein traditionelles Theater als Beispiel. Der einfachste Weg ist, Betroffene in ihrem Arbeitsbereich zu unterstützen. Das kann in konkreter Zusammenarbeit geschehen oder einfach durch die gemeinsame Nutzung von Plattformen/Ressourcen. Als Akt der Solidarität könnten Veranstaltungen organisiert, aber auch über langfristige Lösungen nachgedacht werden. Hier sind einige Projekte, von denen ich mir gewünscht hätte, dass sie aus der Kulturszene gekommen wären:
Oder stellen Sie, ganz allgemein, Ihr Team einfach inklusiver zusammen und achten Sie auf seine Vielfalt, dann wird das Team bei Bedarf ganz organisch auf diese Ideen kommen, weil der Schmerz dann nicht erst geortet und zugewiesen werden muss. Der Schmerz liegt dann im Team, und Ihre Institution wird organisch darauf reagieren - als Mensch und nicht als Institution, die gezwungen wird, etwas zu tun. Verleugnung ist ein Fluss in Ägypten.
Ozi Ozar arbeitet als Regisseur:in, Dramaturg:in, Schauspieler:in und Autor:in. Ozi Ozar wurde in Teheran geboren und schloss an der Islamischen Azad Universität in Teheran 2017 ein BA-Studium in Schauspielregie ab. Zudem studierte Ozi Ozar Filmregie an einer Filmhochschule in Teheran. Während der Arbeit am Bachelor-Abschluss beschäftigte Ozi Ozar sich nebenbei mit dem Potenzial der Komödie. Des Weiteren übersetzte Ozi Ozar einige Stücke, von denen manche in zensierter Version erschienen und andere vom iranischen Ministerium für Kultur und islamische Führung verboten wurden. Ozi Ozar siedelte nach Deutschland um, wo Ozi Ozar an der Frankfurter Goethe-Universität einen Masterstudiengang in „Comparative Dramaturgy and Performance Research“ absolvierte. Im Jahr 2022 war Ozi Ozar Co-Head of Project beim Theatertreffen-Blog.